Der (west-)deutsche Griff nach der Atombombe

Tilmann Hanel erkennt eine gezielte Ausrichtung der bundesdeutschen Atomentwicklung am militärischen Interesse während der Kanzlerschaft Konrad Adenauers

Von Matthias KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963 ist die überarbeitete Fassung der Dissertation von Tilmann Hanel. Sie entstand im Fachgebiet Technikgeschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt und wurde von Professor Mikael Hård betreut. Das Buch ist gut gegliedert und allgemeinverständlich geschrieben, besitzt jedoch leider keinen Index. Der Hauptteil besteht aus fünf logisch aufeinander aufbauenden Kapiteln: Die Vorgeschichte der bundesdeutschen Reaktorentwicklung (2. Kapitel), Exkurs: Reaktorforschung im Ausland (3. Kapitel), Protagonisten und Motive (4. Kapitel), Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur (5. Kapitel) sowie Ergebnisse und Folgen der bundesdeutschen Atompolitik bis 1963 (6. Kapitel). Der Hauptuntersuchungszeitraum erstreckt sich von der Mitte der 1950er-Jahre – der Bundesrepublik Deutschland wurde Kernforschung für zivile Zwecke wieder erlaubt, gleichzeitig musste sie nolens volens vertraglich zusichern, auf die Herstellung von ABC-Waffen auf deutschem Boden zu verzichten – bis zum Ende der Kanzlerschaft Konrad Adenauers 1963, zufälligerweise zugleich auch das Jahr mit den meisten überirdischen Atombombentests in der Ära des Kalten Krieges.

Die Vorgeschichte der bundesdeutschen Reaktorentwicklung beginnt Ende 1938 mit dem Nachweis des Phänomens der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann. Hanel fasst die Atomforschung im Nationalsozialismus zusammen und beschreibt die verschiedenen Wege und Methoden des Reaktor- und Bombenbaus während des Zweiten Weltkrieges. Die USA, die ungleich mehr Ressourcen als Deutschland und Japan in die streng geheime Uran-Forschung investiert hatten, gewannen den Wettlauf mit der Zeit und demonstrierten im August 1945 über Hiroshima und Nagasaki am japanischen Kaiserreich nicht zuletzt auch als Drohung gegenüber der Sowjetunion ihre neue Waffe.

Hanel skizziert im Folgenden die Außenpolitische(n) Entwicklungen 1945–54 und erhellt die Motive für die Reaktorforschung außerhalb Deutschlands. Hier stehen weniger die USA, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien im Fokus, sondern Länder wie Schweden, die Schweiz, Dänemark, Italien, Norwegen, Jugoslawien und Österreich. Zur Erhärtung seiner Hauptthese und zur Beleuchtung von parallelen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland stellt Hanel an das Ende seiner Vorgeschichte der bundesdeutschen Reaktorentwicklung einen Exkurs mit zwei Fallbeispielen über Schweden und die Schweiz.

Der Verfasser sucht im Kern nach Hinweisen für ursprünglich politisch-militärische Motive hinter dem offiziell als friedlich deklarierten zivilwirtschaftlichen Programm zur Nutzung der Nukleartechnik für die Stromerzeugung in der Bundesrepublik Deutschland. Er will beweisen, dass dem dualen Nutzungspotenzial kerntechnischer Forschung, Entwicklung und Anwendung nicht auch, sondern in erster Linie der Wille zum Griff nach der Bombe zugrunde gelegen habe.

Hanel hält das Versprechen, die zivile Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung sei eine unendliche, billige und sichere Energiequelle bestenfalls für eine „gut konstruierte Parabel“ amerikanischer Nukleartechnologieexport- und Nonproliferationsinteressen. Diente die Anwendung der Kernspaltung zunächst als Atombombe zur Revolutionierung der Kriegführung, so läutete US-Präsident Dwight D. Eisenhower die Geburtsstunde der zivilen Nutzung der Kernenergie am 8. Dezember 1953 mit seiner Rede vor den Delegierten der Vereinten Nationen ein. Darin schlug er der Welt die Gründung einer internationalen Bank für spaltbare Materialien vor, um mithilfe von Inspektionsrechten eine wirksame Kontrolle über die zentralen Komponenten und Rohstoffe des Atombombenbaus ausüben zu können, damit diese – in den Händen von Nichtatomwaffenstaaten – ausschließlich friedlichen Zwecken dienen mögen. Deshalb verlieh ihr die amerikanische Presse den Namen „Atome für den Frieden“-Rede.

Hanel sieht darin eine Illusion und zitiert Otto Haxel – während des Zweiten Weltkriegs als Kernphysiker am Uranprojekt tätig, nach dem Krieg als wissenschaftlicher Geschäftsführer der Kernreaktor Bau- und Betriebsgesellschaft mbH ab 1956 am Aufbau des späteren Kernforschungszentrums Karlsruhe beteiligt und einer der 18 Atomforscher, die sich in der Göttinger Erklärung gegen die von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß angestrebte Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwäffelchen aussprachen –, der schon im Oktober 1952 zu Protokoll gab: „Jedes Uran-Kraftwerk ist zwangsläufig eine Kernsprengstoffabrik.“

Hanel hält die zivile Kernkraftnutzung im großindustriellen Maßstab rückblickend von Anfang an für eine „zu riskante und umweltschädliche, ja: menschenfeindliche Technik“. Dem Aufbau einer Kerntechnikinfrastruktur und dem Einstieg in die zivile Kernkraftnutzung läge eine Reihe von Gründen zugrunde, aber entscheidend war für den Autor das außenpolitische Interesse, sich mittel- bis langfristig die nukleare Option offenzuhalten. Hanel resümiert am Ende seiner Untersuchung: „Die von der bundesdeutschen Regierungspolitik angestrebte Option auf den Bau von Atomwaffen stellte die treibende Kraft hinter dem Aufbau einer nationalen Kerntechnikinfrastruktur dar.“

Der Verfasser vermutet hinter der Planung und Realisierung der kerntechnischen Infrastruktur in Westdeutschland bei relevanten Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär den Wunsch zum Aufbau einer autonomen Kernwaffenproduktionsfähigkeit bis hin zu einer exklusiv nationalen Verfügungsgewalt. Er möchte dem „militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplex“ die zivil-sozialmarktwirtschaftliche Maske herunterreißen und sieht vor allem in der programmatischen Entscheidung für die Schwerwasserreaktorforschung eine aus den frühen 1940er-Jahren stammende „Traditionslinie“ mit einer gewissen personellen und organisatorischen Kontinuität des kriegszeitlichen Planes zum Bau einer „Uranmaschine“ mit militärischen Implikationen für die Zeit vor und nach 1945.

Hanels Quellen sind vor allem archivierte und freigegebene Akten des Karlsruher Kernforschungszentrums, des früheren Bundesministeriums für Atomfragen, des Bundeskanzleramts, des Finanzministeriums, des Wirtschaftsministeriums, des Verteidigungsministeriums, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes sowie von ausgewählten Industriearchiven (Siemens-Schuckertwerke, Farbwerke Hoechst, RWE et cetera). Darüber hinaus zieht er Nachlässe, Memoiren und Publikationen von Persönlichkeiten der westdeutschen Kernenergiegeschichte (Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß, Karl Winnacker, Karl Wirtz, Wolfgang Müller et cetera) und ergänzende Sekundärliteratur zu Rate.

In seiner Einleitung stellt Hanel fest, dass der Technikhistoriker Joachim Radkau sowohl in seiner Habilitationsschrift Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse (1983) als auch in der zusammen mit Lothar Hahn (von 2002 bis 2010 technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit) aktualisierten und um den umfangreichen Anmerkungsapparat abgespeckten Neufassung des Werkes unter dem Titel Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975 (2013) keine Neubewertung vornimmt: „Eine zielstrebige Steuerung der deutschen Atomentwicklung im militärischen Interesse ist nicht zu erkennen und ist auch wenig wahrscheinlich.“ (Hahn/Radkau 2013). In seinem Fazit widerspricht Hanel der Einschätzung Radkaus explizit: „Eine gezielte Ausrichtung der bundesdeutschen Atomentwicklung im militärischen Interesse ist […] zu erkennen.“

Hanel kommt auf einer vergleichbaren Quellengrundlage zu einem ganz anderen Fazit als Radkau beziehungsweise Hahn und Radkau. Wie kommt das? Für Hanel besitzt die frühe Entscheidung in der Bundesrepublik für die Schwerwasserreaktorforschung und die spätere weltweite Durchsetzung von Leichtwasserreaktoren wie ein schlüssiger und überzeugender Beweis für den Willen zur Atombombe als eigentliches Motiv, weil Schwerwasserreaktoren als gute Produzenten von waffenfähigem Plutonium galten. Hanel unterstellt Radkau zudem ein unkritisches Bewusstsein.

Als Ostasienhistoriker kommt einem das irgendwie japanisch vor; man kann heutzutage schnell und einfach über das Internet sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern der Kernenergienutzung in Japan verlässliche Daten recherchieren und feststellen, über wieviel Plutonium das Land in etwa verfügt. Die Branchen- und Fachzeitschrift Atoms in Japan des Japanischen Atomindustrie-Forums (Japan Atomic Industrial Forum, Inc.) – die nuklearen Optimisten – und das Bürger-Jahrbuch zur Kernenergie (Originaltitel: Genshiryoku Shimin Nenkan) des Citizen’s Nuclear Information Center (Genshiryoku Shiryō Jōhōshitsu) – die nuklearen Pessimisten – stimmen darin überein, dass die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt aktuell über fast 50 Tonnen Plutonium verfügen dürfte, wovon sich etwa ein Fünftel im Land selbst und vier Fünftel in Frankreich und Großbritannien befinden. Aber wofür steht dieses Faktum? Jedes interessierte Bewusstsein kann diese Frage – vergleichbar mit Hanel versus Radkau – wie eine politische Glaubensfrage unterschiedlich interpretieren und beantworten. Für Bewusstsein A lägen die Motive für so viel – waffenfähiges – Plutonium im unbedingten militärpolitischen Willen zur Atombombe. Für Bewusstsein B wäre die Nationalisierung und Autarkisierung einer geschlossenen Kernbrennstoffkette – von nuklearen Optimisten auch als Kernbrennstoffkreislauf bezeichnet – mit der Entwicklung und Kommerzialisierung der Wiederaufarbeitungstechnologie und des Schnellen Brüters einfach nicht erfolgreich gewesen, was niemand habe vorhersehen können. Selbstverständlich könnte man nachträglich auch ein Bewusstsein C konstruieren, das den Standpunkt einnimmt, dass langfristig ein zivil-militärischer Doppel- oder gar Dreifachnutzen – Kernstrom, Atombomben als nukleare Option und Kernreaktoren als Exportschlager – von Anfang an intendiert gewesen wäre.

Als das Kernforschungsverbot für die Weltkriegsverlierer (West-)Deutschland und Japan aufgehoben wurde, begeisterten sich beide Länder umgehend für die neue Zukunftstechnologie – wer zu spät kommt, den bestrafte ja schon damals das Leben – und begannen Mitte der 1950er-Jahre mit dem „Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur“ beziehungsweise mit einem als zivil deklarierten Programm zur Erforschung, Entwicklung und Nutzung der Kernenergie. Nach Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima hat eine sehr kleine Gruppe von Entscheidungsträgern in der dichtbesiedelten Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund und unter dem Einfluss der Wahlerfolge der grünen Umweltbewegung das Atom-Moratorium beschlossen. Kernenergie galt als nicht mehr länger verantwortbare Übergangstechnologie. In Japan haben sich die regierenden politischen Entscheidungsträger trotz der „Dreifachkatastrophe“ (Erdbeben, Riesenflutwellen, Kernschmelzen) vom 11. März 2011 – noch – nicht dazu durchgerungen. Japanische Ex-Premierminister, wie zum Beispiel Junichirô Koizumi (Liberaldemokratische Partei, Amtszeit 2001 bis 2006), bezeichnen Kernreaktoren mittlerweile immerhin schon als „Zeitbomben“ (jigen bakudan) und haben den alten Spruch japanischer nuklearer Pessimisten übernommen, wonach die Kernenergie „ein Haus ohne Toilette“ (toire naki manshon) sei.

Fazit: Tilmann Hanel hat das Fallbeispiel Japan nicht näher herangezogen und nur kurz den verstrahlten japanischen Fischkutter „Glücklicher Drache Nr. 5“ (Daigo Fukuryû Maru) erwähnt – tatsächlich waren während der amerikanischen Kernwaffentestserie Ende Februar, Anfang März 1954 in der Region um die Insel Namu im Bikini-Atoll hunderte von japanischen Fischkuttern unterwegs (je nach Quelle 400 bis 800) –, aber Hanel kommt das Verdienst zu, die Frühphase der westdeutschen Geschichte der Kernenergie im historischen und internationalen Kontext analysiert und die Pro- und Contra-Argumente der nuklearen Optimisten in der Bundesrepublik Deutschland zusammengetragen zu haben. Der Beweis seiner Hauptthese, wonach das Hauptmotiv für den „Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur“ eine exklusiv westdeutsche Atombombe sei, gelingt wegen leichter Überfokussierung auf die nukleare Option nicht vollumfänglich.

Auf westdeutschem Territorium gab es während des Kalten Krieges schon amerikanische Atomwaffen und entsprechende Trägersysteme, bevor die Bundesrepublik Deutschland NATO-Mitglied wurde. Nach dem Ende der DDR und nach der Auflösung der Sowjetunion lagern auch zweieinhalb Jahrzehnte später noch einsatzfähige Atomwaffen im neuen, vereinigten Deutschland. Auf der Grundlage des NATO-Konzepts der nuklearen Teilhabe ist Deutschland nach wie vor ein Nichtatomwaffenstaat, auf dem ständig modernisierte Nuklearwaffen lagern, die im Frieden wie im Kriegsfall unter amerikanischer Hoheit stehen. Die Codes zum Scharfmachen und Zünden liegen weitestgehend in amerikanischen Händen. Auch nukleare Narrationen erinnern an das politische Eingebettetsein und die soziale Konstruiertheit von Wissen und Wissensproduktion in der auf- und abgeklärten globalisierten Weltgesellschaft. Die Geschichte der Kernenergie hat gerade erst begonnen.

Titelbild

Tilmann Hanel: Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2015.
264 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783837512830

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch