In der Kürze liegt die Würze?

Mario Schneiders Debüt „Die Frau des schönen Mannes“

Von Jenny SchiemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jenny Schiemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sebastian ist tot. Seit Jahrzehnten fehlt er seinem Bruder schmerzlich. Aber wo gehen die Menschen eigentlich hin, wenn sie tot sind? Das fragt sich Paul, der kleine Neffe des Verstorbenen, als Papa in der Kirche eine Kerze für den Onkel anzünden will. Doch Papa, der namenlos bleibt, druckst herum, und während Paul auf der Suche nach dem verstorbenen Onkel energisch die Sakristei durchforstet und zu allem Überfluss auch noch den Pfarrer fragt, ob der Mann da am Kreuz denn Papas Bruder sein könnte, wird der Vater fast böse. Er möchte sich partout nicht damit auseinandersetzen, und außerdem erklärt der Geistliche dem neugierigen Paul gerade, der traurige Mann am Kreuz sei unser aller Bruder und dass er ihn ruhig auch mit nach Hause nehmen dürfe. Das lässt sich der kleine Junge nicht zweimal sagen und spielt nun zuhause mit Soldaten, Indianern und eben dem neuen Helden, Sebastian‘. Damit ist für Paul die Frage nach Sebastian und dem Tod beantwortet, denn: „Sebastian ist da! Er will uns helfen, er hat so viel Kraft! Sebastian ist ein Held!“ Diese Passage kommt niedlich sowie eigenartig zugleich daher. Gefühle werden umgekehrt, die Stimmung schlägt von Traurigkeit in eine gelassene Ruhe um.

Winnie, eine junge US-amerikanische Medizinstudentin, die in einer Arztpraxis aushilft, verguckt sich dort in den Milliardär Steve, als dieser gerade aus der Narkose erwacht. Nach einem Essen und der üblichen Kennenlernphase folgen Reisen mit dem Privatjet und ein Luxusleben, das sich Winnie nie hätte vorstellen können. Doch Steve ist das Leben auf der Erde nicht genug. Da er sich durch seine finanziellen Mittel, hier wird nicht an Klischees gespart, so gut wie alles, was man sich nur vorstellen kann, erlauben kann, fliegt er abenteuerlustig ins All. Da merkt Winnie, als sie ihn von der Liege im Garten aus am Himmel sieht, dass dies nicht ihr Leben ist, sondern das ihres reichen Mannes und sie etwas ändern muss, um wieder in ihr eigenes Dasein zurückzufinden.

Und dann gibt es da noch einen Mann, der in der Sauna einen schönen Mann sieht, welcher mit seiner ebenso schönen Frau bereits lange verheiratet ist. Er lässt sich das Leben des Paares beschreiben, ist beeindruckt von 31 Jahren Beziehung und lässt sich erzählen, dass die Frau krank ist, operiert werden muss und bald wohl nicht mehr schön sein wird. Warum sich ausgerechnet die letzte Geschichte auf den Titel bezieht, erscheint unklar. Jedoch rahmt sie zusammen mit der ersten Geschichte die anderen Erzählungen ein. Geht es in der ersten Geschichte um den Tod, die Trauer, um den entspannten Umgang damit, wiederholen sich diese Themen in der letzten.

Dies sind nur drei der 17 Erzählungen aus Mario Schneiders Die Frau des schönen Mannes. Dem 1970 geborenen Autor gelingt es, den/die LeserIn immer wieder in neue, andersartige Geschichten eintauchen zu lassen, und er meistert die Aufgabe, auf zehn Seiten genaue Bilder der Charaktere im Kopf der LeserInnen entstehen zu lassen. Familien streiten sich, ein Krokodil wird in einem Transporter entdeckt, es wird ins All geflogen und eine Amsel erschossen. Die Kuriosität der Inhalte ist kaum fassbar, so dass man sich während des Lesens in ganz anderen Welten verliert. Das alles passiert auf drei verschiedenen Kontinenten, im Weltall, in Krankenhäusern, im Lastwagen, auf Reisen und wird aus unterschiedlichen Erzählperspektiven berichtet, manchmal entzieht es sich dem Leser ganz, wer denn genau erzählt; manche Figuren sind namenlos.

Dies beschreibt allerdings nur das, was vom Lesen der längeren Erzählungen im Gedächtnis bleibt. Das Gefühl des Eintauchens, des kurzen Spannungsmoments, die Charakterbildung in der Phantasie der/des Lesenden bleibt bei den wenigen sehr kurzen Erzählungen, sechs an der Zahl, leider aus. So ist zum Beispiel Kleine Stadt – alte Menschen nur knapp eine Seite lang und will den LeserInnen einfach nicht im Kopf hängen bleiben, weil man den Gedanken, den der Autor dort gestaltet, rasch überflogen hat und schlichtweg nichts passiert, was sich in der Erinnerung verfestigen könnte.

Auf diese Weise gerät auch die Gattung der Erzählung aus den Fugen – wie kurz darf eine Erzählung sein? Wann ist eine Erzählung zu kurz? Wann vielleicht sogar überflüssig?

Andererseits wirken derartige Geschichten, in denen man das klassische Happy End nirgends finden kann, stimmig und passen durchaus zueinander, so dass die bemühte Kürze zwar eigenwillig erscheint, sich aber in die sonderbar eigenartigen Geschichten einfügt. Mario Schneider studierte unter anderem Musikwissenschaften und Komposition und so überlegt man, ob die Komposition der Erzählungen einen tieferen Sinn hat.

Die einzelnen Erzählungen lassen sich stolperfrei und angenehm lesen, sind manchmal so geschrieben, dass man ins Schmunzeln gerät. So sagt zum Beispiel eine Mutter zu ihrem Sohn, als er sich dafür schämt eine Amsel erschossen zu haben: „Jungen tun so etwas. Ich weiß nicht einmal, ob du dich dessen schämen solltest.“ Schließlich ist er ein Junge, oder? Andere Mütter hätten dazu was anderes gesagt, eine Moralpredigt darüber abgehalten, dass man auf nichts Lebendes schießt und es nicht an dem Geschlecht des Kindes festgemacht, dass es den Trieb dazu hat, solche Dinge zu tun.

Zum Schluss lässt sich anmerken, dass die Lektüre von Die Frau des schönen Mannes irgendwohin zwischen Realität und kurioser Träumerei entführt, es jedoch gerade diese Mischung ist, die den Erzählband lesenswert macht. Dazu trägt auch das Fehlen eines roten Fadens bei, denn weder die Figuren noch die Themen der Erzählungen, ausgenommen die der rahmenden Geschichten, beziehen sich aufeinander. Wer mehr von dem ursprünglich zum Metallurgen für Hüttentechnik ausgebildeten Mario Schneider sehen will, kann sich darüber hinaus seine preisgekrönten Dokumentarfilme Helbra, Heinz und Fred oder Mansfeld anschauen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mario Schneider: Die Frau des schönen Mannes. Erzählungen.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2013.
160 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783954621941

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch