Eine runde Sache

Der Sammelband „Welterfahrung und Welterschließung“ bietet die ganze Welt und mehr in einem Buch

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Ringvorlesungen an der Universität Salzburg geben den Rahmen für den von Anna Kathrin Bleuler herausgegeben Sammelband vor, und es sind Ringvorlesungen im besten Sinn, denn WissenschaftlerInnen aus den unterschiedlichsten Fächern kommen zusammen, um die Welt und alles drumherum im Mittelalter und Früher Neuzeit zu erklären.

Das Fundament legt Christian Rohr mit seiner Frage nach Scheibe oder Kugel. Selbstverständlich wird diese Frage nach dem ‚wirklichen‘ mittelalterlichen Weltbild mit der Kugel beantwortet. Zahllose Kugelbeispiele aus der Antike bis hin in die Frühe Neuzeit dürften auch den letzten Zweifel schnell beseitigt haben: Die Erde ist im Mittelalter eine Kugel.

Diese Erdkugel wird in den folgenden Beiträgen mit vielfältigen Inhalten gefüllt. Wir erfahren vom Beziehungsgeflecht des menschlichen Geistes im mittelalterlichen Denken, also von dem, was die Welt im Innersten Zusammenhält. Wir erfahren auch von der Verbindung von Zeit und Raum. So gewappnet übersteht man schließlich auch den Mongoleneinfall von 1240/41. Dieser Vorlesungspart liest sich übrigens wie ein Kriminalroman und Michael Brauer klärt auf, wie es zum Mongolensturm kam, was die Folgen in Asien und Osteuropa waren und wie der ‚apokalyptische Spuk‘ – so die Wahrnehmung im christlichen Europa – ebenso schnell wie er gekommen war, auch wieder verschwand. Vielleicht noch wichtiger sind aber die Zwischentöne, das heißt die durchaus feinen und vielfältigen Beziehungen des Abendlandes zu den Mongolen, die gleichsam nebenbei herausgearbeitet sind. Eine völlig andere Weltdimension bietet die um 800 entstandene Stephansburse. Aus Edelsteinen und Gold gemacht, ist sie als Schlüssel zum Heil konstruiert. Wer die magisch-mystischen Steinkombinationen entschlüsselt, sieht die Offenbarung und letztendlich das göttliche Heil. Einen solchen Schlüssel gibt Renate Prochno-Schinkel dem von der Pracht beeindruckten Leser an die Hand.

Nicht ganz in diese Weltdimensionen passt der Beitrag von Imke Mendoza zu den russischen Birkenrindentexten. Aber genau das ist das Schöne an einer Ringvorlesung – und damit an diesem Band: Wenn man denkt, jetzt sehe ich klar, alles passt in eine feste Struktur, kommt etwas völlig Neues, Unerwartetes. Die russischen Birkenrindentexte entschädigen mit spannenden Einsichten in eine Welt, die sowohl dem Literaturwissenschaftler wie dem Historiker aufgrund fehlender Überlieferung sonst verschlossen bleibt: Der russische Alltag des 12.-15. Jahrhunderts. Damit ist aber auch schon die erste Vorlesungsreihe beendet. Gerne würde man noch mehr von einer so interessanten Welt erfahren, und tatsächlich geht es gleich weiter mit „Rituale – Feste – Zeremonien“ im zweiten Teil.

Die Reise führt zunächst in die Lokalitäten des ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, des ‚Nibelungenlieds‘, des ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg und vieler anderer klassischer mittelhochdeutscher Epen und Romane, dass dabei Agonalität und Erotik als zwei zentrale Prinzipien erkannt werden, macht die Welt der mittelalterlichen Literatur insgesamt ein Stück transparenter. Dann ist es der Tisch in Wolframs ‚Willehalm‘, um den sich alles dreht, wobei man wissen muss, dass im Mittelalter das Festmahl einen zentralen Ort der Kommunikation, aber auch der Verbindlichkeit darstellt. Genau in diesem Sinn sitzen ‚wir Leser‘ um diesen Tisch herum und erhalten Stück für Stück Einsichten in Wolframs Idee des Werks. „Das höfische Festmahl erscheint nicht nur als Ort der symbolischen Vermittlung höfischer Identität, sondern es ist zugleich Einfallstor der Krise, des Konflikts und des Exzesses.“

Ein zweites Mal nach Russland führt der Beitrag von Ursula Bieber. Gleichsam in Ausführung der Birkenrinde-Texte blicken wir jetzt tatsächlich hinein in die russische Fest- und Trinkkultur, allerdings sind die Berichte nun vielfach gefiltert, weil literarisch überformt. Die Rückbindung an historische Ereignisse, wie die beginnende Branntweindestillation im Moskauer Staat des 15./16. Jahrhunderts oder Reiseberichte mit ‚realen‘ Alkoholexzess-Schilderungen lässt diese Kluft jedoch nie unüberwindlich werden. Es folgen Beiträge zur Konvivialität, zum Mysterienspiel, zu mittelalterlichen Ritualen und Zeremonien sowie zu Hochzeiten im Spätmittelalter.

Den Parforceritt durch die Festkultur beenden zwei Vorlesungen zur jüdischen Festkultur. Susanne Plietzsch erklärt zunächst minutiös, was eine Haggada ist. Armin Eidherr führt eine Haggada-Überlieferung vor: Die um 1350 entstandene ‚Sarajevo-Haggadah‘. Ehe ganz am Schluss „ein Begräbnis erster Klasse“ den Endpunkt setzt, das heißt eine forensisch-anthropologisch-archäologische Betrachtung der spätmittelalterlichen Sterbekultur.

Was bleibt nach 320 Seiten? Unglaublich viel Neues; Vieles, von dem man als ‚normaler‘ Leser noch nie gehört hat; spannende Einsichten – aber natürlich auch ein Schuss Verwirrung, denn die einigende Klammer der Beiträge in diesem Sammelband erschließt sich nicht immer. Die Wege Gottes – und des Bandes – sind halt nicht immer ergründlich. Trotzdem macht es bis zur letzten Seite Spaß, das Buch zu lesen. Und wer es darüber hinaus auch noch wissenschaftlich nutzen will: An Fußnoten, Literaturangaben, Forschungsreflektion fehlt es nicht. Ein umfängliches Register erfüllt schließlich auch noch den letzten Wunsch des Wissenschaftlers.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Anna Kathrin Bleuler (Hg.): Welterfahrung und Welterschließung in Mittelalter und Früher Neuzeit.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015.
346 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825365295

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