Zwischen gestern, heute und niemals

Nellja Veremej berichtet in „Nach dem Sturm“ vom Heiligen Berg und seinen Bewohnern

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem zweiten Roman Nach dem Sturm legt Nellja Veremej einen überaus gelungenen Nachfolger ihres Debüts Berlin liegt im Osten von 2013 vor. Wie auch in diesem setzt sich die studierte Philologin mit der Lebensgeschichte von Einzelpersonen auseinander, die sie über zahlreiche Verbindungen – Familie, Liebe, Geschichte – miteinander in Beziehung setzt. Dabei wird die Handlung jedoch nicht von einer Ich-Erzählerin geschildert, sondern multiperspektivisch durch eine personale Instanz. So nutzt Veremej die Chance, die Geschichte, die von allen Personen geteilt, erlebt und verstanden wird, von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten.

Gebündelt werden die Perspektiven durch den geschichtsträchtigen Ort der Handlung, die Stadt Gradow. Hier vereinigen sich die Geschichten von Ivo, seiner Frau Milly, der Tochter Ana, dem Sohn Boris sowie von Mira, der Freundin der Tochter. Ivo leitet ein Restaurant auf der Festung am Berg Oros und führt eine mittlerweile entfremdete Beziehung mit seiner Frau Milly. Die Jahre haben sie voneinander fortgetrieben, die Kinder sind schon lange aus dem Haus – es herrscht eine angespannte Stille. Zu Mira, der Praktikantin im Museum der Festung auf dem Oros, fühlt sich Ivo hingezogen. Fast sehnsüchtig erwartet er die zufälligen Treffen mit ihr, bei denen er kein vernünftiges Wort herausbringt. Verkompliziert wird diese für Ivo bereits belastende Beziehung durch die Freundschaft, die zwischen Mira und seiner Tochter Ana besteht, und der Beziehung seines Sohns Boris zu Mira. Als wäre die Situation nicht schon schwierig genug, läuft nun auch noch Ivos Restaurant nicht mehr gut – die Gäste bleiben aus und es steht ein großes Fest an, zu dem die Tochter und der Sohn nicht kommen wollen. Bis hierhin handelt es sich bei Nach dem Sturm um eine ganz normale Erzählung von Familienstreit, Liebschaften und Eheproblemen.

Ergänzt wird diese in der Gegenwart angesiedelte und immer wieder durch realpolitisches Geschehen, wie die steigende Anzahl von Menschen auf der Flucht und die Finanzkrise, ergänzte Geschichte durch fiktionale Rückblicke in die Vergangenheit der Stadt Gradow. Von der Entstehung der Stadt bis hin zur mythischen Rettung der Festung durch das Opfer einer Frau und Schnee im August wird diese zweite Erzählebene immer wieder aufgerufen. Mira, die die Stadtgeschichte für das örtliche Museum aufbereitet, nennt ihre Arbeit ‚die Konstruktion einer Narration‘ – ganz zum Unverständnis des lokalen Museumsdirektors.

Beginnt Nach dem Sturm noch leise, so werden im Verlauf des Romans immer mehr Gegensätze zwischen Generationen und auch zwischen Lebenswelten eröffnet. Es existiert  nicht mehr nur einen Unterschied zwischen den Eltern und den Kindern, sondern ebenfalls ein Unterschied zwischen denen, die fortgegangen und denen, die geblieben sind. Es geht um die Differenz von Kapitalismus und Sozialismus, die Differenz von Altem und Neuen, Globalisierung und Lokalisierung, Tradition und Innovation. Veremej thematisiert diese in unserer Zeit dringenden Themen des Dazwischen auf meist sehr treffende Weise. In Dialogen lässt sie die Vertreterinnen der einzelnen Positionen aufeinanderprallen. Nicht um eine Antwort oder eine moralinsaure Deskription zu liefern, sondern um die Zerrissenheit des modernen Menschen aufzuzeigen. Der neuralgische Punkt für all diese Differenzen ist ein Sommersturm, ein Unwetter, welches weit zurückliegt und das dem Roman seinen Namen leiht. In der Konfrontation mit dem drohenden Verlust des Alten und Gewohnten stellt sich nicht etwa die Akzeptanz des Neuen ein; vielmehr wird die Angst vor dem Neuen sichtbar. Stabilität ist der Wert, der hier am Ende stehen bleibt – ob diese Stabilität aber letztlich ein für alle erträglicher Zustand ist, bleibt ungeklärt.

In den Differenzen verbirgt sich nicht zuletzt ein gewisses Maß an Gesellschaftskritik. Sowohl in der Struktur der Geschichte als auch in der Diskussion der Differenz lässt Veremej ihre Protagonistinnen immer wieder mit der Steigerungs- und Beschleunigungslogik der modernen Gesellschaft in Konflikt geraten. Schlussendlich stellt sich die Frage, wie im Umgang mit der Vergangenheit das Wertvolle erhalten werden kann, ohne die Vorteile des Neuen auszuschließen. Versöhnende Positionen scheinen in der Geschichte erst zum Schluss auf. Sie erinnern aber nicht an das Neue sondern nur an die Wiederkehr des Immergleichen.

Vermej beschwört in Nach dem Sturm die im Roman immer wieder erwähnte Augusthitze herbei. Man kann in einzelnen Passagen förmlich die drückende Hitze und den warmen Wind am mückenumschwirrten Rand des Sees spüren. Die langen Serpentinenstraßen und die zum Teil kühle Luft der Altstadt Gradows sowie die dreckige Umgebung im Ried werden greifbar. Dazu passt das Triptychon Die Anbetung der heiligen drei Könige Hieronymus Boschs, von dem ein Ausschnitt auf dem Cover abgebildet ist. Es wurde der obere Bereich gewählt, im unteren Teil würde man bei kompletter Ansicht zwei Heere aufeinander zureiten sehen, die – so eine Möglichkeit der Interpretation – auf die Konfrontation des Heeres Gottes mit den Legionen des Antichristen hinweisen. Die hier dargestellte Differenzstruktur im Roman und auch das Aufrufen von Flucht sowie Szenarien der Apokalypse im Text selbst lassen eine solche Deutung zumindest zu.

Nach dem Sturm ist somit zweierlei. Zum einen ist es eine aufregende Geschichte, für viele Leser zugänglich und gespickt mit Anknüpfungspunkten, die so oder so ähnlich auch im Alltag wiederzufinden sind. Der Wechsel auf die Ebene der mythologischen Erzählung lockert den Erzählfluss ungemein auf. Zum anderen ist das Buch aber eben auch ein wertvolles Stück Literatur, das auf die Verknüpfung von Mensch und Geschichte hinweist. Veremej sieht den Menschen als Produkt seiner Geschichte und als von deren Materialität beeinflusst. Menschen sind ebenso geprägt durch das, was sie erleben – andere Prägungen schaffen andere Menschen. Für diese wird das Austarieren zwischen Altem und Neuem zum Balanceakt und damit zu einer Entwicklungsaufgabe, mit der sich alle Menschen konfrontiert sehen. Veremej referiert in Nach dem Sturm auf etwas allgemein Menschliches und macht diese Erfahrung zugänglich – definitiv ein Zeichen für ein wertvolles Werk.

Titelbild

Nellja Veremej: Nach dem Sturm. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2016.
238 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270813

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