Eine grundsätzliche Einheitlichkeit der menschlichen Erfahrung

Vor zehn Jahren griff Jean François Billeter seinen Kollegen François Jullien an – erst jetzt erscheint das Buch auf Deutsch

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verstehen wir China? Oder ist es ein Land, dessen Denken uns verschlossen bleibt, weil es auf grundsätzlich anderen Bedingungen fußt? Wie ist dieses Denken überhaupt entstanden, wie hat es sich entwickelt? Bereits in der Schrift gibt es signifikante Unterschiede, sie besteht aus Bildern, die sich aus anderen Bildern zusammensetzen. Übersetzungen sind schwierig und äußerst problematisch. Können wir so denken wie Chinesen?

Damit beschäftigt sich seit vielen Jahren und wahrscheinlich noch auf unabsehbare Zeit eine Kontroverse unter Sinologen. Der eine Pol der Diskussion ist der Franzose François Jullien. Für ihn ist China das „ganz Andere“. Undenkbar, dass wir uns da hineinfinden könnten. Einer, der ihm wohl am heftigsten widerspricht, ist der emeritierte Schweizer Sinologe Jean François Billeter. Von ihm ist vor ein paar Jahren eine wunderbare Reihe von Vorlesungen über das Zhuangzi erschienen, die er 2000 am Collège de France gehalten hat. Jetzt erschien, ebenfalls im Merve Verlag, seine Erwiderung auf seinen Kollegen, kurz und knapp betitelt mit „Gegen François Jullien“. Leider mit zehn Jahren Verspätung, denn im Original kam es bereits 2006 heraus. Dennoch lässt sich noch immer einiges aus diesem Buch lernen, vor allem für Nicht-Sinologen. Für die Fachleute ist die Diskussion längst weitergegangen – ohne eine tatsächliche Annäherung allerdings.

Billeters Haupteinwand gegen Jullien ist, dass dieser etwas konstruiert, was es so nie gegeben hat, nämlich „das chinesische Denken“. Er mache aus dem Land und seinen Denksystemen (deren es verschiedene gegeben hat: konfuzianisches, daoistisches und buddhistisches Denken, das sich jeweils über Jahrhunderte entwickelt hat) eine exotische Einheit, ein schlechthin Anderes, für uns Westler Unverständliches. Damit steht er in der Tradition von Viktor Segalen und dem berühmteren Richard Wilhelm, der die klassischen Schriften vor fast 100 Jahren in ein heute umständlich klingendes und oft unnötig dunkles Deutsch übersetzt hat. Zudem, so Billeter, gehe Jullien auch über die politischen Fakten hinweg. Dass sich nämlich die chinesische Philosophie seit der Han Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) auch in den Dienst der Zentralmacht gestellt habe: „Was wir heutzutage für die ‚chinesische Zivilisation‘ halten, ist mit dem kaiserlichen Despotismus vollkommen verwoben.“ Dagegen setzt Billeter seinen Wunsch, dass man versteht,

dass es eine grundsätzliche Einheitlichkeit der menschlichen Erfahrung gibt, um die chinesische Wirklichkeit, die wir untersuchen, von ihr ausgehend zu verstehen und sie dann so anschaulich wie möglich zu beschreiben. Wenn wir so vorgehen, tritt gleichzeitig in Erscheinung, was die chinesische Erfahrung mit der unseren gemein hat und worin sie sich von der unseren unterscheidet. Wenn man a priori von der Differenz ausgeht, verliert man den gemeinsamen Grund aus den Augen. Wenn man hingegen vom gemeinsamen Grund ausgeht, zeigen sich die Unterschiede von selbst.

Schon Julliens Bezeichnung „Literaten“ greift Billeter als völlig verfehlt an. Es waren keine Literaten in unserem Sinne, keine Gelehrten oder Schriftsteller, sondern in den Machtapparat eingebundene Beamte, die auszuführen hatten, was ihnen befohlen wurde.

Also: leichtfertige Verallgemeinerungen und eine apolitische und ahistorische Sichtweise. Das sind harte Geschütze. Billeter weist in seiner Gegen-Publikation nach, dass Jullien von einem fundamentalen Unterschied zwischen Abendland und China ausgeht und dann nur noch die Texte heranzieht, die seine These belegen – ein schöner Zirkelschluss. Und für die meisten Leser, die vielen Nicht-Sinologen, auch nicht nachvollziehbar, denn die meisten Texte der chinesischen Philosophie sind nicht übersetzt. So bleibt auch der vorliegende Band leider allzu oft eine interne Debatte zwischen zwei Sinologen.

Titelbild

Jean François Billeter: Gegen François Jullien.
Übersetzt aus dem Französischen von Tim Trzaskalik.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
142 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783957571588

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