Nicht ohne satirische Spitzen

Jörg Magenau porträtiert die Gruppe 47 bei ihrem Treffen in Princeton

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Gruppe 47, die nicht gerade im Stillen gewirkt hat und von einem frühen Zeitpunkt an mit wachsendem Interesse von Literaturkritik und Literaturwissenschaft begleitet worden ist, lässt sich kaum Neues sagen. Das gilt vor allem für die späteren Treffen wie das in Princeton im April 1966, das bestens dokumentiert ist. Sogar ein Tonprotokoll der Lesungen und anschließenden Diskussionen ist im Internet aufrufbar.

Wer nichts Neues mitzuteilen hat, versucht, Neuartigkeit vorzuspiegeln. Ein solcher Versuch scheint der Untertitel des vorliegenden Buchs zu sein: „Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47“. Das Attribut „abenteuerlich“ passt nicht recht zu einer Reise von Europa nach New Jersey in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Außerdem war die Zusammenkunft nicht das erste Auslandstreffen der Gruppe. Schon im Frühjahr 1954 war sie im italienischen Cap Circeo zusammengekommen und im September 1964 im schwedischen Sigtuna. Vielleicht soll sich das „abenteuerlich“ auf die politische Situation beziehen: Deutsche Intellektuelle, mehr oder weniger ‚links‘ zu nennen, zu Gast bei einer Nation, die gerade den Vietnamkrieg führt. Aber ohne weiteres erschließt sich eine solche Anspielung nicht.

Möglich, dass der Buchtitel nicht vom Verfasser stammt, sondern vom einen Werbestrategen des Verlags; denn auch der Klappentext ist vollmundig: Das Wochenende in Princeton sei „mehr“ gewesen „als nur ein Gipfeltreffen der deutschsprachigen Literatur“, auf dem die „wichtigsten“ Schriftsteller und Kritiker miteinander diskutiert hätten. Über das „mehr“ nachzudenken, lohnt nicht; und mag der floskelhafte Superlativ im Plural mit Bezug auf die Kritiker noch halbwegs zutreffen, mit Bezug auf die Schriftsteller ist er unzutreffend. Es fällt leicht, prominente Autoren zu nennen – und einige nennt Magenau selbst –, die nicht zur Gruppe 47 gehörten: etwa Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen (seiner Abwesenheit in Princeton widmet Magenau zwei Seiten) und Thomas Bernhard (dass er in Princeton nicht dabei war, wurde von seinem Verleger Unseld bedauert, der die Gruppe gern zur Plattform des Suhrkamp-Verlags gemacht hätte); von den beiden Schweizern Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt ganz zu schweigen. Dass sich für Autoren aus der DDR schwerlich die Möglichkeit ergab, Mitglieder der Gruppe zu werden, versteht sich in der Zeit des Kalten Kriegs fast von selbst. Zwar war sie  trotz ihrer lockeren Verfasstheit zu einer Art Institution geworden, doch darf ihre Repräsentativität nicht überschätzt werden, erst recht nicht die eines einzigen Treffens.

Hinzu kommt, dass die Gruppe in Princeton nur unvollständig vertreten war. Nicht einmal alle ihre Preisträger gehörten zu den ca. achtzig Personen, die Richters Einladung gefolgt waren. Von den bis dato neun Preisträgern blieben fünf fern: Günter Eich, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Martin Walser. Johannes Bobrowski, der Preisträger des Jahres 1962, war 1965 gestorben, und ob Adriaan Morriën, der heute vergessene niederländische Preisträger von 1954, gekommen war, ist sehr fraglich. Er war zwar eingeladen, doch hat er in Princeton keine Spuren hinterlassen. Lediglich zwei Preisträger waren zugegen: Peter Bichsel, der Preisträger des Vorjahrs, und Günter Grass, der Preisträger von 1958. Dieser allerdings, an der Seite von Gruppengründer Hans Werner Richter allmählich zu einer Art Juniorchef avanciert, mit dem vollen Gewicht seines Ruhms und seiner Persönlichkeit.

Offenbar weiß Magenau, dass das Treffen in Princeton für sich allein genommen zu wenig Stoff bietet, und benutzt es als Rahmen, um von der Gruppe insgesamt und ihrem historischen und politischen Umfeld zu erzählen. Denn es handelt sich weit mehr um ein Erzählen mit literarischen Mitteln, Fiktionalität inbegriffen, als um einen Bericht. Dabei blickt er oft zurück und gelegentlich voraus: scheut auch keine abschweifenden Seitenblicke wie den auf den Mathematiker Kurt Gödel, mit dem sich Albert Einstein im gemeinsamen Princetoner Exil angefreundet hatte. Grosso modo folgt er der Tagesordnung, setzt sie aber zugunsten von Exkursen außer Kraft, wenn sich die Autoren oder die vorgetragenen Texte als unergiebig erweisen. Beispielsweise benutzt er den geringen Anklang, den Gerd Fuchs mit einer kafkaesk anmutenden Erzählung über einen Gerichtsprozess findet, als Anknüpfungspunkt, um vom Frankfurter Auschwitzprozess zu sprechen und u. a. Martin Walsers einschlägige Stellungnahme zu erwähnen und Verse von Paul Celan und Marie Luise Kaschnitz zu zitieren.

Peter Weiss, der anwesend ist und wegen seines „Oratoriums“ „Die Ermittlung“ über den literarischen Aspekt von Shoah-Darstellungen hätte kundig sprechen können, bleibt in diesem Kontext eine Gestalt am Rande, was insofern wundert, als ihm Magenau sonst viel Aufmerksamkeit sowie Wertschätzung und Sympathie entgegenbringt. Empathisch würdigt er die Situation des in Schweden lebenden jüdischen Emigranten, der sich in der Gesellschaft von Personen, deren Teilhabe an der deutschen Geschichte lückenlos war, fremd fühlen muss. Weiss ist der zweitberühmteste Autor der Tagung und wird in Magenaus Buch zum Antipoden von Grass, dem berühmtesten, der die Rolle der bête noire übernehmen muss.

Selbstverständlich kann Klaus Brieglebs kühne These, die Gruppe 47 sei latent antisemitisch gewesen, nicht übergangen werden. Magenau, der sie als Zeugnis für übereifrige Vergangenheitsbewältigung späterer Generationen begreift, erwähnt sie, als er auf Celans Lesung 1952 in Niendorf zu sprechen kommt und auf das verständnislose, teils sogar taktlose Echo, das sie in der Gruppe fand. Er benutzt diese Reaktion, die nicht den Texten, sondern der Vortragsweise galt, um – durch eine Zitatmanipulation – Grass den Verständnislosen zuzugesellen. Doch Grass stieß erst 1955 zur Gruppe, kann also über Celans Niendorfer Lesung nicht gesagt haben, „man hätte während der Lesung Kerzen anzünden wollen“. Eine vergleichbare Bemerkung findet sich erst in seinem Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel (2006), wo er von seiner Freundschaft mit Celan in Paris spricht: Celan habe „von sich, dem Unsäglichen in seinen Gedichten und von seinem Leid nur feierlich in Engführungen und wie zwischen Kerzen gestellt sprechen können“. Diese Charakterisierung von Celans Sprechweise hat mancherorts Empörung ausgelöst, ohne dass der Nachweis, dass sie Unfreundliches oder gar Despektierliches impliziert, erbracht worden wäre. Der Versuch, die von Celans Worten hervorgerufene Atmosphäre zu veranschaulichen, kann nicht per se verwerflich sein.

Das literarisch bedeutsamste Ereignis in Princeton war das Auftreten Peter Handkes, weil er mit dem Vorwurf der „Beschreibungsimpotenz“ die Ästhetik der Gruppe prinzipiell in Frage stellte. Aber für die Gruppenkonstellation wichtiger als der Inhalt seiner Einlassungen war die provokative und die den Comment der Gruppe missachtende Art und Weise, mit der er sie vorbrachte. Grass, literarisch und politisch in einem anderen Universum unterwegs als Handke und diesen als literarischen Konkurrenten nicht recht ernst nehmend, habe jedoch mit seinem feinen „Sensorium für öffentliche Aufmerksamkeitszuteilungen“ den Konkurrenten „im Bereich der Publicity und im Selbstvermarktungsgeschick“ erkannt und die „Legende“ begründet, in Princeton sei durch Handke das Ende der Gruppe eingeläutet worden. Darüber, wer und was dann schließlich das Ende herbeigeführt hat, lässt sich trefflich streiten, und auch Magenau dürfte keine einfache Antwort bereit haben. Hier von Multikausalität auszugehen, ist ratsam.

Für die Geschichte einer literarischen Gruppe sind Autorenpersönlichkeiten fast relevanter als Texte, was der Unterhaltsamkeit zugute kommt – ein Vorteil, den Magenau im Interesse lebhaften Erzählens zu nutzen weiß. Dabei gelingt ihm oft Satirisches: „Grass, ein paar Reihen vor Weiss, streckte, durchströmt vom angenehmen Bewusstsein, Günter Grass zu sein, die Beine aus.“ Oder Uwe Johnson, „der sehr aufrecht und steif und alle anderen um Haupteslänge überragend mit knallrotem Kopf neben Peter Weiss‘ bezaubernder Frau Gunilla Palmstierna saß und jede Berührung mit ihr sorgfältig vermied, indem er die Ellenbogen eng am Körper hielt.“ Oder Hellmuth Karasek, „der sich Mühe gab, immer ein wenig klüger zu wirken, als er war  ̶  wogegen nichts zu sagen wäre, denn das trifft ja auf alle zu, bei ihm merkte man es aber [ … ]“. Solche Porträts belegen, wie flüssig Magenau schreibt und wie gut er seine Pointen setzt. Stellenweise fühlt man sich an das „Treffen in Telgte“ erinnert, was wiederum die Vermutung nahelegt, dass Grass, obschon ihm wenig Sympathie zuteil wird, nicht nur im Text präsent ist, sondern auch bei dessen Konzeption Pate gestanden hat. 

Das Lesevergnügen, das Magenaus Buch bereitet, entschädigt dafür, dass es nicht streng literaturwissenschaftlich ist. Eher haben wir es mit anspruchsvollem Journalismus zu. Wenn schon klassifiziert werden muss: Sieht man vom Umfang ab, so ähnelt der Text in seiner lockeren Komposition und mit seinem ‚süffigen‘ Stil einem guten Feature, in dem Wissensvermittlung und Unterhaltung keine Gegensätze bilden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jörg Magenau: Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016.
240 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783608949025

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