Schmähkritik?

Juan Gabriel Vásquez’ „Die Reputation“ ist ein fesselnder Roman über die Tiefgänge und Abgründe der Satire

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es gibt keine Karikatur ohne Stachel und keine ohne Honig.“ Javier Mallarinos Grundsatz, der eigentlich von seinem großen Vorbild, dem kolumbianischen Karikaturisten Ricardo Rendón (1894-1931) stammt, treffen Vásquez’ Roman im Kern: Für die einen als moralische Instanz honigsüß, trifft der Stachel der Karikatur die Reputation anderer und macht den Karikaturisten nicht selten zum persönlichen oder gar öffentlichen Feind. 

Vásquez’ porträtiert einen kolumbianischen Karikaturisten, der am Höhepunkt seiner Karriere steht. Mallarino, „ein Mann, der in der Lage war, ein Gesetz zu Fall zu bringen, ein Gerichtsurteil zu kippen, einen Bürgermeister zu stürzen oder ein Ministerium zu erschüttern, seine einzigen Waffen Papier und Tusche“ (13), wird nach 40-jähriger Tätigkeit öffentlich im Teatro Colón geehrt. Die Begegnung mit der jungen Samanta Leal auf dieser Feier, die ihn unter dem Vorwand eines Interviews wiedertreffen will, sich aber als frühere Freundin seiner Tochter Beatriz entpuppt, konfrontiert ihn schließlich mit seiner Vergangenheit und einem seiner ‚Opfer‘. Vor Jahren tauchte der konservative Abgeordnete Adolfo Cuéllar unerwartet bei einer privaten Feier in Mallarinos Haus auf, flehte ihn an, seine großen Ohren, die kindlichen Sommersprossen und den strengen Scheitel im gegelten Haar nicht mehr zu zeichnen, denn: „Auf Grund seiner Reputation hatte ihn die liberale Presse aufs Korn genommen.“ (86) Samanta war am Abend der Feier auch da, damals noch ein Mädchen, das sich unwissend, gemeinsam mit Beatriz, mit den Alkoholresten der erwachsenen Gäste betäubte.

Was an diesem Abend geschah, konnte nie völlig aufgeklärt werden, doch Cuéllar scheint nach seinem Gespräch mit Mallarino das Schlafzimmer mit den zwei vom Alkohol berauschten Mädchen aufgesucht zu haben, wo Mallarino Samanta schließlich „[n]och immer schlafend, ich meine, ohne Bewusstsein, aber auf dem Rücken liegend, nicht seitlich, wie ich Sie zurückgelassen hatte, sondern auf dem Rücken, der Rock etwas hochgeschoben“ (106) vorfindet – ein gefundenes Fressen für den Karikaturisten. 

Wenig später schmückt Mallarinos Karikatur die meistgelesene Seite von El Independiente mit dem Titel: „Der Abgeordnete Adolfo Cuéllar: ‚Lasst die Mädchen zu mir kommen.‘“ Damit ist Cuéllars Reputation dahin, sein Rücktritt wird verlangt und er springt schließlich aus dem Fenster, während ihm sein Arzt ein Rezept für Antidepressiva ausstellt. Seine Schuld hatte Mallarino damals abgestritten, doch nun möchte er der Sache noch einmal nachgehen und gemeinsam mit Samanta Cuéllars Ex-Ehefrau befragen. War Cuéllar wirklich pädophil? Oder hat die Karikatur das Leben eines unschuldigen Mannes zerstört? Hatte Mallarino noch in seiner Rede am Tag seiner Ehrung erklärt: „Karikaturen können die Wirklichkeit übertreiben, können sie jedoch nicht erfinden. Sie können verzerren, aber niemals lügen“ (51), so scheint dieser langjährige Grundsatz des versierten Karikaturisten am Ende doch ins Wanken zu geraten.  

Die deutsche Übersetzung von Vásquez’ bereits 2013 herausgebrachtem Roman hätte passender nicht erscheinen können: Einige Wochen später zeigt die Böhmermann-Affäre, dass die Grenzen zwischen Satire und Beleidigung verschwimmen, dass sich Satiriker rechtfertigen müssen und dass Kunst nicht zuletzt strafbar ist. Der gezielte Angriff auf die Reputation des Anderen kann dabei auch die eigene Reputation gefährden. Für Ricardo Rendón, Mallarinos großes Vorbild, blieb nur der Sprung aus dem Fenster: Nachdem er sich ironischerweise selbst karikiert hatte, brachte er sich mit nur 37 Jahren um. Wie eine Warnung lastet dieser Selbstmord auf Mallarino, können Karikaturen doch Leben zerstören, auch das Leben des karikierten Karikaturisten. 

Vásquez fesselnder Roman ist allerdings mehr als eine Abhandlung über die Tiefgänge und Abgründe der Karikatur, er wirft auch einen Blick auf Kolumbien, auf die leider nicht Proust zitierenden Schuhputzer Bogotás, auf ein Land, in dem „man erst jemand [ist], wenn einem ein anderer etwas antun will“ (43) und in dem die Frage nach dem Motiv von Mord nur noch eine rhetorische ist, wie es in Vásquez vorigem Roman Das Geräusch der Dinge beim Fallen heißt. 

Nicht zuletzt handelt es sich auch um einen Roman, der Trennung und Wiedervereinigung wie nebenbei thematisiert und dabei doch Paarbeziehungen in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen weiß. Wie Vásquez’ Protagonist Antonio Yammara aus Das Geräusch der Dinge beim Fallen verlässt auch Mallarino seine Familie, um Jahre später doch immer wieder zu seiner Frau Magdalena zurückzukehren. Und auch hier geht es um Reputation, nämlich um Mallarinos Reputation als Karikaturist. Kunst und Verantwortung stellt er über Freundschaft und Familie, seine Karikaturen machen auch vor Freunden der Familie nicht halt – ein Grund schließlich für die Trennung, die jedoch nicht endgültig ist.  

Wie bei einem Puzzle, so fügt sich bei Vásquez alles irgendwie zusammen. Dabei werden diese Bezüge nicht allzu offensichtlich dargelegt, man entdeckt sie wie zufällig. Doch was wie Zufall wirkt, scheint bei Vásquez künstlerisches Prinzip zu sein. Dazu zählt auch seine wunderbare sprachliche Präzision, sein für Details geschärfter Blick, dem auch die Farbvarianz eines Schnurrbarts oder eines Cordblazers nicht entgeht, „dessen Rillen beim Berühren die Farbe veränderten“ (149).

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Juan Gabriel Vásquez: Das Geräusch der Dinge beim Fallen. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014.
296 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783895610080

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Titelbild

Juan Gabriel Vásquez: Die Reputation.
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
192 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783895610097

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