Marcel Reich-Ranicki über Hermann Kant

Eine Verteidigung

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Nachdem Marceli Ranicki im Juli 1958 Polen verlassen hatte, wurde er in Deutschland, genauer: in der BRD, unter dem neuen Namen Marcel Reich-Ranicki innerhalb weniger Jahre zum prominentesten, einflussreichsten und umstrittensten Literaturkritiker seiner Zeit. Er profilierte sich hier zunächst vornehmlich als Fachmann für die Literatur Osteuropas und der DDR, die man damals in der Bundesrepublik noch nicht so nennen durfte. Im September 1958 erschien als Aufmacher der Buchmessenbeilage der Frankfurter Allgemeinen sein zweiter Artikel in dieser Zeitung, eine Rezension zu Arnold Zweigs Roman Die Zeit ist reif. Der in der DDR bedeutendste, doch in der Bundesrepublik damals kaum bekannte Aufbau-Verlag hatte ihn veröffentlicht. Arnold Zweig, der in Polen geborene und 1933 aus Deutschland geflohene Autor, war 1948 aus der Emigration zurückgekehrt, und zwar nach Ost-Berlin.

Am 7. März 1959 leitete Reich-Ranicki in der Welt eine ganze Serie von Artikeln unter dem Titel „Deutsche Schriftsteller, die jenseits der Elbe leben“ mit den Sätzen ein: „Es gibt deutsche Schriftsteller unserer Zeit, die man an der Wolga und an der Weichsel besser kennt als am Rhein und Main. Es gibt deutsche Romane, die in chinesischer Übersetzung und in den Sprachen asiatischer Sowjetvölker vorliegen, aber in Hamburg oder Frankfurt in keiner Buchhandlung zu finden sind. Es gibt eine deutsche Literatur, die in der Bundesrepublik ignoriert wird – die Literatur der Sowjetzone.“ In den Jahren 1959 bis 1961 schrieb er für den Norddeutschen Rundfunk eine monatliche Zeitschriftenschau über Literatur und literarisches Leben in der DDR, und 1960 erschien im Paul List Verlag eine von ihm herausgegebene Sammlung von Geschichten etlicher in der DDR lebender Autoren unter dem, wie er später kommentierte, „unsinnigen“ Titel Literatur in Mitteldeutschland.

Ein ausgewiesener Kenner und kritischer Begleiter der Autorinnen und Autoren aus der DDR, später vor allem auch jener, die das Land freiwillig oder zwangsweise verließen, ist Reich-Ranicki zeitlebens geblieben. 1963 erschien seine erste Sammlung von Aufsätzen in der Bundesrepublik – unter dem bezeichnenden Titel Deutsche Literatur in West und Ost. Sie wurde später in erweiterten Fassungen mehrfach neu aufgelegt. 1974 veröffentlichte er die Aufsatzsammlung Zur Literatur der DDR, die er 1991 zu dem Buch Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR vervollständigte.

Dass seit den 1960er Jahren die in der DDR verlegte deutsche Gegenwartsliteratur vielfach auch in der BRD publiziert und wahrgenommen wurde, ist nicht zuletzt sein Verdienst. Hermann Kants erster und bekanntester Roman Die Aula erschien 1965 in Ost-Berlin, 1966 in München und wurde von dem Kritiker ausführlich in der Zeit besprochen. Die Rezensionen zu Kants zweitem Roman Das Impressum (1972) erschien ebenfalls in der Zeit, die zu seinem dritten Roman Der Aufenthalt (1977) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deren Literaturredaktion Reich-Ranicki seit 1973 leitete.

Dieser dritte Roman hat den Kritiker trotz vieler Vorbehalte gegenüber dem Text und dem Autor am meisten beeindruckt. Die persönlichen Gründe dafür spricht die Rezension nicht ausdrücklich an, sie sind aber nachträglich deutlich erkennbar. Der sechs Jahre jünger Hermann Kant erzählt hier über sein Leben um 1945 in Warschau wie etliche Jahre später Reich-Ranicki selbst ausführlich in Mein Leben. Während der achtzehnjährige Hermann Kant im Dezember 1944 zur deutschen Wehrmacht eingezogen wurde, bald darauf in sowjetische und polnische Kriegsgefangenschaft geriet, in einem Warschauer Gefängnis und in einem Arbeitslager auf dem Gelände des Warschauer Gettos inhaftiert wurde, sich dort zum engagierten Antifaschisten wandelte und 1949 nach Deutschland in die damalige Sowjetische Besatzungszone zurückkehrte, war Reich-Ranicki, der 1943 aus dem Warschauer Getto fliehen und sich in einem Vorort Warschaus vor den Nationalsozialisten verstecken konnte, im September 1944 durch die Rote Armee befreit worden. Er meldete sich zum Dienst in der polnischen Armee und trat 1945 in die Kommunistische Partei Polens ein, die ihm allerdings fünf Jahre später die weitere Mitgliedschaft verweigerte und 1953 ein Publikationsverbot erteilte.

Hermann Kant schilderte in seinem Roman also aus der Perspektive des Protagonisten jene Zeit in Polen, die der Kritiker selbst aus unmittelbarer Nähe erlebt hatte. Und wie Kant sie schilderte, nahm den Kritiker für den Autor ein:

Aber sowenig hier der Haß der Polen von 1945 gegen die Deutschen gemildert wird, so ist der „Aufenthalt“ doch frei vom Haß gegen die Polen. Ja, es gelingt Kant, die Leser zu überzeugen, daß sein jugendlicher Held sich selber und die Deutschen von damals auch mit den Augen ihrer Opfer zu sehen imstande ist und schließlich, aller Leiden zum Trotz, für die Polen viel Verständnis hat.

Kants anhaltende Bindung an die SED und seine vielfältigen und weitgehend fragwürdigen kulturpolitischen Aktivitäten waren für Reich-Ranicki indiskutabel, aber vor seiner Literatur hatte er viel Respekt. Die letzten Sätze seiner letzten Rezension über ihn blieben eine Art Resümee, dem er später fast nichts mehr hinzufügte: „Dieser Schriftsteller war und ist ein harter und intelligenter Gegner unserer westlichen Welt. Zur Herzlichkeit haben wir wahrlich wenig Grund. Aber doch zu einer knappen, respektvollen Verneigung.“

Über Hermann Kant, einen der erfolgreichsten und umstrittensten Autoren der DDR, hat sich der Kritiker danach nur selten und allenfalls beiläufig geäußert. Mit einer Ausnahme: Am 10. Oktober 1991 griff Reich-Ranicki im Literarischen Quartett, das über Hermann Kants Autobiographie Abspann diskutierte, seine frühere Respektbekundung noch einmal auf. Als Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und Peter von Matt übereinstimmend die Schwächen des Buches und Fragwürdigkeiten des Autors anklagten, übernahm Reich-Ranicki die Rolle des Verteidigers:

Freunde, Augenblick mal! In jedem Gericht muss es auch einen Pflichtverteidiger geben. Wenn kein anderer die Rolle übernehmen will, übernehme ich sie. Ich werde mal den Kant ein bisschen verteidigen, denn das, was sich hier abspielt, beginnt ungerecht zu werden.

Die Kritiken, die bisher in den großen Blättern über den Roman veröffentlicht wurden, sind alle sehr unangenehm. Alle Blätter, die großen, haben falsch gehandelt. Nämlich: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt Günter Kunert, mein Freund, den ich verehre und bewundere. Im Spiegel schreibt Monika Maron, in der Zeit Günter de Bruyn. Alle drei stammen aus der DDR, alle drei sind Opfer der DDR und in diesem Sinne auch Opfer des Schriftstellerverbands, an dessen Spitze viele Jahre Hermann Kant stand.

Seit wann urteilen die Opfer über die Täter? Das ist nicht in Ordnung. Die Kritik von Günter Kunert, den ich so sehr schätze, ist eine ganz ungerechte, einseitige Kritik. Ihm ist Böses angetan worden, und er rächt sich. Rache hat in der Kritik nichts zu suchen. Auch Monika Maron hätte schweigen sollen, De Bruyn kommt noch am besten weg, der gewisse Dinge als Einziger –

 Mehrfach unterbrochen von den anderen, setzte er die Verteidigung fort:

 Nun, der Fall Hermann Kant ist so einfach nicht. Ich habe ihn in der Zeitung einen „Hallodri“ genannt und einen „Spitzbuben“. Je ne regrette rien, ich bedaure es nicht, ich ziehe es nicht zurück.

 Hat er Sie verklagt?“ fragte Sigrid Löffler ironisch dazwischen. Und Reich-Ranicki antwortete: „Nein, er hat mich nicht verklagt. Er wird mich auch jetzt, nachdem ich es wiederholt habe, nicht verklagen. Er ist ein Spitzbube, er ist vielleicht ein Halunke, ein Hallodri. Aber schreiben kann er, schreiben kann er.“ Und weiter:

Also, zurück zum Fall Kant. Kant ist ein Mann aus einer proletarischen oder kleinbürgerlichen Familie aus Schleswig-Holstein. Er wurde Soldat, kam in Kriegsgefangenschaft und war in Warschau in einem Kriegsgefangenenlager und kam dann in diese Antifa-Erziehung, die von der DDR aus dirigiert war, und kam schließlich in die DDR. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, die mir nicht gefallen haben. Ich habe über Die Aula mit größter Skepsis geschrieben, das Buch nicht ganz abgelehnt, aber doch ziemlich. Und sein Buch Impressum ist noch schlechter. Und dann hat er einen Roman geschrieben, der in Warschau spielt, zum größten Teil im Kriegsgefangenenlager, Aufenthalt. Und ich habe ein verlogenes Buch erwartet, und er hat ein sehr wichtiges, sehr beachtliches Buch geschrieben. Und einer, der ein gutes Buch im Leben schreibt, ist ein guter Schriftsteller. Christa Wolf kann machen, was sie will, sie hat Nachdenken über Christa T. geschrieben, und das werden wir nicht vergessen.

Es gebe in der Tat viel an dem Werk dieses Autors auszusetzen. Und was Kant beispielsweise über Sarah Kirsch formuliere, sei „widerlich“. Aber „ich finde, trotz allem hat es der Mann verdient, dass man ihn verteidigt.“

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt die Vorbemerkungen des Herausgebers zu einer Sonderausgabe von literaturkritik.de, die zum 90. Geburtstag von Hermann Kant am 14. Juni 2016 erschienen ist:

MRR-KantMarcel Reich-Ranicki: Hermann Kant. Zu seinen Romanen „Die Aula“, „Das Impressum“ und „Der Aufenthalt“. Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de 2016 (für Online-Abonnenten von literaturkritik.de frei zugänglich). Dort ist auch die Video-Aufzeichnung des Literarischen Quartetts eingebunden, aus der in diesem Beitrag zitiert wird.