Magnifizenz Frankenstein – Tristitia post Bologna. Oder: Überall richtig angemeldet?
Mit „Hier kommt Michelle“ hat Annette Pehnt einen Campusroman geschrieben, trifft allerhand Nägel auf die Köpfe und fackelt eine Uni ab
Von Rüdiger Brandt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMichelle, eine „reizende junge Abiturientin mit einem schmalen, flinken Körper, einer raschen Auffassungsgabe und einer ausgeprägten Schwäche für Katzen“ betritt die Bühne der postuniversitären Eliteuniversität Sommerstadt (= Freiburg?). Ihr Weg durch die Institutionen erinnert einen Professor i.R. (= mich) an den Weg durch Dantes Inferno; aber sie sieht das anders, und außerdem gibt es für ein Inferno zu viel zu schmunzeln. Direkt herzhaft zu lachen gibt es nichts – das bleibt einem im Hals stecken. Ein weiteres Motiv, an das man erinnert wird, ist das Narrenschiff; zwei Intertexte werden im Text selbst benannt: Orwells 1984 und Huxleys Brave New World. Mögliche weitere, aber weniger essenzielle Intertexte findet man in den Campus Novels von Lodge, Bradbury, Kingsley Amis usw. (etwa Changing Places zum Auslandssemester, The British Museum is Falling Down für den Schluss).
Autorin und Erzählerin, die mit- und gegeneinander ein raffiniertes Spiel mit ihren Rollen betreiben, können sich nicht einigen, ob sie ihre ‚Heldin‘ mögen oder nicht. Das gilt eigentlich für die meisten Figuren im Buch. Die Karikaturen der Studenten erschienen mir zunächst zu einseitig – bis dann die Rede war von „nicht selbstverschuldeter Unmündigkeit“; Michelle ist „Produkt der Verhältnisse, in diesem Fall: Produkt der Studienreformen, für die an der Universität Sommerstadt verantwortlich zeichnet der … Rektor“ (der unter zwei verschiedenen Vornamen auftaucht – Schlamperei?). Man (ich) hätte also Pehnt sofort mehr Glauben schenken sollen, wenn sie konstatiert: „Dieser Roman ist larmoyant, verbittert, arrogant, ungerecht und unpsychologisch; er enthält Stereotypen, Versatzstücke, Gesellschaftskritik, Verhöhnungen, Polemik und ein negatives Weltbild.“ Stimmt nämlich alles – nur die Stereotypen sind so stereotyp nicht, sondern eher von blutigem Realismus gekennzeichnet, und sie werden dadurch aufgebrochen, dass es immer Typen und Antitypen gibt. Das Beatles-Zitat Here comes the sun,/ and I say: it’s alright über dem Einleitungsteil (die eigentlichen Kapitel werden als „Module“ bezeichnet) ist eine glatte Lüge bzw. Ironie: Nix ist alright an dieser (und anderen) Universitäten. Am schlechtesten kommt der Rektor weg. Er ist ein Halunke, insofern er einer Verantwortung nur gegenüber sich selbst gerecht wird, ist nicht nur geckenhaft, geld- und karrieregeil, sondern vor allem machtbewusst, nach oben angepasst, nach unten tyrannisch, intrigant, rachsüchtig, humorlos, ein im Grunde äußerst dummer, aber hochschulpolitisch stromlinienförmiger Vertreter seines Standes – ausgerechnet dieser rückgratlose Mensch bekommt dann allerdings wenigstens (man ist ja für alles dankbar) Rückenprobleme. Dann aber entwickelt er gar frankensteinhafte Züge. Er will nämlich der Standardisierung der Studienstrukturen eine Standardisierung der Studierenden folgen lassen („Heterogenität, und zwar derart, dass daraus für uns Probleme entstehen, gibt es doch nur noch bei den Studierenden. … Es liegt doch eigentlich, meine ich, auf der Hand, dass wir nicht nur die Bologna-Studiengänge brauchen, sondern auch den Bologna-Studenten.“). Inneruniversitär kontrolliert ihn niemand, ministerielle Aufsicht scheint es nicht zu geben (passt ja auch alles wunderbar), die Presse versagt, alle akklamieren bzw. plappern nach. „Die Besten kriegen am meisten …, und das ist ja auch der Grundgedanke einer Eliteuniversität, berichtet die örtliche Presse, so der Pressesprecher der Universität, sage der Rektor, wie der Landesrektorenverband, im Sinne des Ministeriums.“ Die Universitätsverwaltung hat nur die Finanzen im Auge. Die Professoren sind angepasst – selbst die senilere Spezies. Der Mittelbau ist teils ebenfalls angepasst und zynisch (was ggf. nicht vor Tinnitus schützt), teils idealistisch und ‚rest-engagiert‘, aber resigniert; „die Gelehrten und letzten Geistesarbeiter“ und die „Bolognagewinner und Exzellenzstreber“ haben getrennte Mensen. Die charakterliche Dichotomie führt bei Michelle zu neuen Auswahlkriterien für Seminare: „einen Bogen um alle Dozenten … machen, die verbittert oder zynisch aussehen, und da sich die Auswahl an in Frage kommenden Lehrpersonen auf diese Weise dramatisch verringert, ist es für sie viel leichter geworden, die passenden Veranstaltungen zu finden.“ Die Studis erfüllen die Vorbedingungen nicht, die man an sie stellt, machen sich darüber aber entweder keinen Kopf oder empfinden dahin gehende wohlmeinende Hinweise als Unverschämtheit; sowohl bei der Mehrheit der Angepassten als auch bei den wenigen politisch Engagierten dominiert Naivität. Außeruniversitär sieht es auch nicht besser aus, nur war da kein Platz für eine entsprechende analytische Eindringtiefe: helicopter moms und dads bedauern ihr Kind bei schlechten Noten; Mom: „Diese verkorksten Akademiker. Die kriegen doch ihr Leben nicht in den Griff, und dann müssen sie sich an den Mädchen austoben.“; Dad „Man kann ja immer auch noch klagen. Du weißt, dass wir einen guten Anwalt an der Hand haben.“ Dazu kommt es dann nicht – Michelle entwickelt ihre eigenen Strategien –, sie lernt also schon etwas, wenn auch nicht das von anderen Gewünschte. Die Schule ist nur vertreten durch einen Altachtundsechziger – wohlmeinend, aber pädagogisch resonanzlos, im Grunde alleingelassen, so dass es sein einziger Grund zur Freude ist, wenn jemand widerspricht, egal wem. Eine interessante Zwischenfigur ist die Leiterin des Kompaktseminars „Kreatives Schreiben“, nicht eingebunden in den eigentlichen Universitätsbetrieb – aber über Scheine und Noten auch Vollstreckungshelferin. Sie verfolgt sinnvolle Ziele, ist aber menschlich offenbar auch wegen Resonanzlosigkeit frustriert und beschädigt, kann sich von ihren Vorurteilen gegenüber Michelle nicht freimachen. Netter Gag am Rande: Eine von ihr gestellte Aufgabe ist es, zu einem Satz eine Geschichte zu schreiben; der Satz lautet: „Hier kommt Michelle.“ Diesen von der Erzählerin/Autorin zugespielten Ball nimmt die Autorin/Erzählerin auf; eines der vorgestellten Konzepte zum weiteren Umgang mit ihrer Protagonistin ist die Möglichkeit, diese selbst in einer „Endlosschleife“ die bisherige Geschichte schreiben zu lassen „bis zu dem Punkt, an dem es wieder heißen muss: Hier kommt Michelle und so weiter.“ In der Auseinandersetzung mit der Schriftsteller-Dozentin gewinnt Michelle Kontur. Sie bemerkt die Ablehnung und entwickelt selbst eine Aversion, fügt sich erstmals nicht – was sie nicht weiterbringt: Es gibt wieder eine schlechte Note. Dass das Studium für die Lebenspraxis nichts ‚bringt‘, glaubt sie schon vorher festgestellt zu haben, als sie erfolglos versucht, eine Mail ihres Freundes mithilfe der gelernten Analysekategorien zu verstehen.
Die Autorin kennt sich – bei ihrer Vita kein Wunder – im Unimilieu bestens aus. Dafür sprechen allein die reichlich eingestreuten neuen Hochwertwörter: Aufgeschlossenheit, Kompetenzen und Schlüsselkompetenzen, Präsenz, Personality Training, Standardisierung, Elite, international, global, Verschlankung, Drittmittel, Exzellenzprofil, Evaluation, Relevanz, Kompatibilität – name it you get it; die alten Verhältnisse werden von den Neuerern diskreditiert als „sentimentale Humboldt-Romantik“, „Bildungsbürger-Ballast“, „bildungsschwanger“, „selbsterfahrungstrunken“; dagegen helfen nur „schmerzhafte Einschnitte“. Und dann gibt es noch Worthülsen, die eigentlich keine sind, aber bei den Adressaten so ankommen, wie etwa: „wissenschaftliche Neugier wecken“. Die Studis neuen Schlags sind aber stattdessen marktorientiert und layoutfixiert (nicht nur bei Hausarbeiten). Studienfächer werden ausgedünnt; es gibt ersatzweise für Juristen einen Visionären Tag, für Pädagogen und Psychologen einen Markt der Möglichkeiten, Kompetenzzentren, neue Fächerverbünde.
Diese intime Kenntnis ist unter dem Aspekt des Realismus ein Vorteil – das Produkt birgt aber auch Gefahren: Um den Wahnsinn zu verstehen, der an den Universitäten Einzug gehalten hat, muss man sich als Leser/in nämlich ebenfalls auskennen; sonst gehen einige Schüsse leicht nach hinten los. Ich bezweifle, dass Nicht-Akademiker, konkreter noch: Nicht-Geisteswissenschaftler (Vertreter anderer Wissenschaften kommen kaum vor und sind eher randständig) die Tragödie verstehen, die hier dargestellt wird. Im Gegenteil – manches wirkt komisch, was gar nicht komisch ist (z.B. die Seminartitel, die für Außenstehende letztlich nur die Vorurteile gegenüber Geisteswissenschaften – praxisfremd, verschroben, solipsistisch, masturbatorisch – bestätigen). Ein Seminartitel wie „Randwertprobleme und nichtlineare Differenzialgleichungen“ ist für Fachfremde auch nicht verständlich – nur gesteht man dergleichen manchen Fächern eben einfach zu, weil die ‚halt kompliziert sind‘; Geisteswissenschaften aber sollen sich verdammt noch mal klar ausdrücken (sie sind aber Wissenschaften und erschöpfen sich nicht in Propädeutik). Diese Adressatengebundenheit hätte die Autorin nur um den Preis von mehr Erklärungen aufbrechen können; das hätte dem Roman nicht gut getan; handelte es sich dagegen um einen bildungsanalytischen Traktat, wäre darauf zu verweisen gewesen, dass die ‚Letztverursacherin‘ die Politik ist: Sie hat die Misere an den Grundschulen verursacht, die notwendig zur Misere der weiterführenden Schulen, schließlich der Universitäten geführt hat.
Die Multiperspektivität führt auch zu einem Patchwork verschiedener Gattungen und Genres. Das passt zu manieristisch-postmodernen Gestaltungstechniken: Metafiktionales, Entfaltung alternativer Möglichkeiten, sich durchdringende und konkurrierende Rollen von Autorin und Erzählerin, Intertextuelles, die Protagonistin als potenzielle Autorin, alternative Tableaus und Kraftfelder zwischen Figuren und deren Einfluss aufeinander, Stilparodien wie z.B. überlange Sätze. Wir haben es mit einem Campusroman zu tun, der Bestandteile eines Adoleszenzromans zeigt, also auch coming of age-Literatur ist, ein Stück bildungspolitischer littérature engagée, Satire, Bildungs- oder Entwicklungsroman (wiewohl dafür eigentlich zu fragmentarisch – aber das passt ja wunderbar zum Fragmentarismus des neuen Studiums), Dystopie, ein bisschen auch eine (na klar: unglückliche) Liebesgeschichte, in jedem Fall eine narrative Typenkomödie, von einem biographistischen Standpunkt aus vielleicht auch ein Selbsterfahrungsroman.
Welche Probleme haben die Studis? Sie wussten vor allem nicht, was auf sie zukommt – das wussten wir auch nicht. Spezifischer sind Einschreibungsterror und Medienoverkill: Studentische Anmeldungen erfolgen „persönlich, online, mit Formularen oder mit allem gleichzeitig.“ Neben traditionellen Seminaren und Arbeitsgruppen stehen Online-Foren, Studi-Plattformen, virtuelle Diskussionsräume – das kostet Zeit, die anderswo fehlt. Auch political correctness wird zum Overkill: Solarzellen, Mülltrennung, Fahrradparkplätze; einzig das Speiseangebot der Mensa ist ernährungsphysiologisch noch hinter dem Mond. D.h. die meisten Probleme liegen nicht im Bereich der Studieninhalte, sondern pflastern den Weg dorthin – also eine Propädeutik sui generis.
Unter den Aspekten von Komplexität und kritischem Potenzial sicher funktional ist es, dass irgendwie alle ihr Fett wegbekommen: Lehrer sind ‚zerquält, zerfurcht, bemüht‘, Schüler/innen auf eine pompöse Art naiv, Studierende auf eine naive und unreflektierte Art objektlos effizienzbesessen, ordentlich, gesundheitsbewusst, angepasst, bei all dem aber oberflächlich und auf eine manchmal schon unglaubwürdige Art dumm. Gibt es im Buch eine Person, die sympathisch wäre? Statt Sympathie wird eher Mitgefühl verschenkt: für Michelle, für Heike Blum, die allein erziehende Mutter, deren Stelle bedroht ist, weil sie die Präsenzpflicht nicht einhalten kann; für den Pressesprecher des Rektors, der dessen als Visionen deklarierte Flausen in kommensurable Artikel gießen muss und, um mitzukommen, für die wichtigsten Schlagwörter Shortcuts anlegt. Als Kollektiv kommt der Mittelbau am besten weg – trotz Fleiß, Engagement und Produktivität leidet er unter Lohnsklaverei und drohenden Stellenstreichungen. Einzelne Vertreter erscheinen aber nicht weniger dubios als die anderer Statusgruppen. Einzig das kleine Subkollektiv der Keltologen, bestehend aus dem Dozenten und 17 Studierenden, kommt als Ganzes gut weg: Sie sind „keine Papierfiguren, sie leben ihr Leben und lieben ihre Wissenschaft“. Um das zu können, benötigen sie kein Selbsterfahrungsseminar und keinen Uni-Psychologen. Diese Darstellung erweckt beim akademischen Leser Sympathie – aber sie ist heikel; denn im Grunde genommen bestätigt sie Vorurteile gegenüber „Orchideenfächern“.
Die Erzählstimme wird von Autorin, Erzählerin oder welcher Zwischeninstanz auch immer an einer Stelle als „hämisch und herabsetzend“ bezeichnet. Das ist ironisch – aber gegen wen richtet sich die Ironie? An anderer Stelle wird vom „negative[n] Weltbild“ des Romans gesprochen; das stimmt. Es gibt kein happy end, es zeichnet sich nicht einmal eins ab; Michelle meint am Schluss nur, es habe eins gegeben. Eine häufige und wohlfeile Rezensions-Bemerkung über eine Satire ist, dass die Realität sie weit hinter sich lasse; sie wäre hier unangebracht: Natürlich gibt es an den Universitäten noch mehr Unfug, als Pehnt schildert; aber sie hat eine durchaus repräsentative Auswahl getroffen.
Am Ende steht tatsächlich ein Inferno, von dem man freilich nicht weiß, wie es ausgeht. Als der Plan des Rektors zur „Bolognisierung der Studierenden“ die Runde macht, stehen alle inner- und außeruniversitären Lobbyisten schon bald mit diversen Anträgen in den Startlöchern. Diesmal sind es die vielgescholtenen Studierenden, die Widerstand leisten. Bei ihrer Demo geraten Flugblätter in Brand, die Flammen greifen auf die Gebäude der Universität über. Michelle (inzwischen wissenschaftliche Hilfskraft – im 4. Semester?), die schon die Feuerwehr anrufen will, erinnert das Ganze plötzlich an „Silvester“, „eine Weltmeisterschaft“, in summa „ein ganz großes Fest – vielleicht das größte, das sie in ihrem Leben feiern wird, und sie lässt den Hörer sinken und schaut andächtig hinaus auf die brennende Universität Sommerstadt.“ Also doch nichts gelernt? Aber wenigstens nicht die Feuerwehr gerufen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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