Lesen vor und nach Bologna

Eine Einleitung zu den Pehnt-Besprechungen

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Initiativen wie „Eine Stadt liest ein Buch“ stiften literarische Kommunikation als Gemeinschaftserlebnis mit Eventcharakter. Jenseits der Leseförderung werden unterschiedlichste Bewohner einer Stadt miteinander über einen gemeinsamen Gegenstand ins Gespräch gebracht. Wir dokumentieren den Kleinversuch „Eine Fakultät liest ein Buch“ hier mit vier Besprechungen von Annette Pehnts Campusroman Hier kommt Michelle, der von VertreterInnen verschiedener Statusgruppen gelesen und kommentiert wird. Das Kaleidoskop der Stimmen gibt Einblick nicht nur in den jeweiligen individuellen Austausch mit dem Buch, sondern auch über literarische Kommunikation als Echo der anderen Lektürestimmen und als Diskurs über das, was in diesem Buch verhandelt wird: die deutsche Universität der Gegenwart, wie sie sich GeisteswissenschaftlerInnen in Forschung und Lehre darstellt und wie sie von Studierenden, Hilfskräften, MittelbauvertreterInnen, Lehrbeauftragten, nicht-wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, JuniorprofessorInnen, ProfessorInnen, der Hochschulleitung und Emeriti erlebt wird.

Vertreten sind diese – und weitere Gruppen, etwa auch Eltern und Freunde von Studierenden – in Pehnts Roman allesamt. Auch dadurch unterscheidet er sich von traditionellen Campusromanen und zollt der Bologna-Reform Tribut, die aus Sicht vieler das Studium als verlängerte Schulzeit definiert. Wie ernst diese „Reform“ des Genres – in Analogie zur im Ersterscheinungsjahr des Romans laut Programm vollständig umgesetzten, unter dem Namen Bologna apostrophierten Europäischen Studienreform – zu nehmen ist und ob sie dem literarästhetischen Genuß zugute kommt, diskutieren mehrere der Beiträge. Und die Frage nach der Ernsthaftigkeit der Autorinnenintention und des entstandenen Werks begleitet das Buch seit seiner Entstehung: Von der Autorin als ihr „Beitrag zur Trivialliteratur“ charakterisiert, wurde das schmale Bändchen von Piper, Pehnts renommiertem Hausverlag, abgelehnt und in der „Edition Text-Mission“ des kleinen Freiburger jos fritz-Verlages schließlich mit beachtlichem Erfolg publiziert. Die Publikationshindernisse wurden zum Teil der Erfolgsgeschichte, angefeuert durch ein Plädoyer von Anja Hirsch in der FAZ und einer Würdigung des Büchleins als „ironische[n] Campusroman[s] zu ernsten Themen“ durch den Germanisten Gerd Roellecke in der Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbandes Forschung und Lehre (S. 789).

Kontrovers zu betrachten wäre der Roman also mindestens in zweierlei Hinsicht: mit Blick auf seine Aussagen über Sinn, Zweck und Bedingungen des Studiums in der heutigen Universität und im Hinblick auf seinen gattungstypologischen und literarästhetischen Anspruch. Denn wie die promovierte Anglistin Pehnt ist auch der angelsächsisch geprägte Campusroman mit allen Wassern der Ironie gewaschen; wer das Motto

Dieser Roman ist larmoyant, verbittert, arrogant, ungerecht und unpsychologisch; er enthält Stereotypen, Versatzstücke, Gesellschaftskritik, Verhöhnungen, Polemik und ein negatives Weltbild. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind beabsichtigt.

als rezeptionspsychologischen Beipackzettel liest, ist schon gefangen im raffinierten double-bind von Schlüssel-, Kolportage- und Post-Bologna-Roman: Textsorten, die ihren Realbezug wie ein Vexierspiel nutzen zur Veranschaulichung wie zur Verschleierung, zur Dramatisierung wie zur Verharmlosung, zur Unterhaltung wie zur Indoktrinierung der RezipientInnen.

Hier kommt Michelle inszeniert aktuelle Missverständnisprozesse über das Zeitgemäße von Studium, Universität und Campusroman so, dass sich an deren rezeptionspsychologischen Folgen Fragen der literarischen Wertung (und der Aufgabe von Gegenwartsliteratur) entzünden. Ganz im Sinne der literarischen Romantik laden wir deshalb dazu ein, uns selbst in einem und als Roman zu lesen.