Über den Umgang mit Dementen

Inge Jens reflektiert in „Langsames Entschwinden“ die letzten Jahre der Beziehung zu ihrem Mann

Von Nicolai GlasenappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Glasenapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Demenzielle Erkrankungen haben in der Gesellschaft der Gegenwart und der Zukunft keinen Seltenheitswert. In diesem Zusammenhang sieht man sich unweigerlich mit Fragen konfrontiert, die den Status des Menschseins selbst betreffen. Von dieser Erfahrung sind die Briefe gezeichnet, zu deren Publikation sich Inge Jens nach dem Tod ihres Mannes Walter Jens entschieden hat. Ein daran anschließender überarbeiteter Vortragstext aus dem Jahr 2012 ergänzt die Sammlung um Beobachtungen und Hinweise zum Umgang mit Dementen.

Mit einem Vorwort, das einerseits als Rückblick auf die vergangene Zeit mit ihrem zwischenzeitlich verstorbenen Ehemann Walter Jens und andererseits als Vorausschau auf den vor ihr liegenden Lebensabschnitt fungiert, wird das Buch eröffnet. Darin zeigt sich bereits eine Charakteristik der Briefe von Inge Jens, die einem Wechsel zwischen emotionaler  Betroffenheit und sachlicher Schilderung zuzuschreiben ist. Gerade die Briefform stellt eine folgenreiche Basis dar: In erster Linie handelt es sich um Briefe, die an Freunde oder Menschen aus dem engeren Umfeld geschrieben wurden. Nur in wenigen Fällen reagiert Inge Jens auf Anschriften ihr unbekannter Personen, die aber in Kontakt mit ihrem Mann gestanden haben. Da nicht mehrere Briefe an dieselbe Person adressiert wurden, ergibt sich der Eindruck, sie schreibe denselben Brief mehrfach. Nicht zuletzt erfüllen die Briefe eine informative Funktion, wenn den Bekannten die Situation des Ehepaars Jens und der Zustand von Walter Jens geschildert werden. Dadurch kommt es für den Leser zu Redundanzen. Jedoch – will man darin eine Poetik der vorgelegten Briefe erkennen – werden diese als Versuch der Annäherung an das Phänomen Demenz ersichtlich und bilden die Suche nach einer Erklärung für diese komplexe Krankheitsform ab. So lassen sich die einzelnen Briefe mit ihren Wiederholungen als Annäherung an einen Metatext über Demenz begreifen, der nicht nur als Erklärung für Außenstehende, sondern auch für das schreibende Selbst fungieren kann, als Ziel aber immer nur angepeilt, nie jedoch erreicht werden kann. Denn die Briefe von Inge Jens dokumentieren eine unauflösbare Spannung, mit der jede Person konfrontiert wird, die sich mit der Demenz einer ihr bekannten und nahestehenden Person befasst. Sie besteht darin, dass der Demente zugleich dieselbe Person und auch nicht mehr dieselbe Person verkörpert, die man kennen und lieben lernte. Am Maßstab des Vergangenen gemessen kann der Zustand eines Dementen nur als mangelhaft begriffen werden, denn unweigerlich geraten seine früheren Fähigkeiten und Kenntnisse in den Blick und ihr Fehlen wird bewusst. Gerade an Walter Jens als einst rhetorisch brillantem Wissenschaftler muss die durch die Demenz entstandene Diskrepanz schmerzhaft deutlich werden.

Daneben wird an den Briefen von Inge Jens ein anderer Zugang zu ihrem dementen Mann ersichtlich, der etwa auch in einem anderen prominenten Buch über Demenz, Arno Geigers Der alte König in seinem Exil, zu erkennen ist: Anstatt eines Abgleichs mit der Vergangenheit gilt es zu erkennen, welche Reaktionen, Neigungen oder Ängste den Dementen ausmachen und darauf einzugehen. So beobachtet Inge Jens an ihrem Mann, dass er sich den Wonnen des Essens ausgiebiger und freudiger hingibt als früher oder dass ihm Aufenthalte auf einem umtriebigen Bauernhof gut tun. Die Grundfrage, die hinter alledem steckt, ist die: Wie kann für den dementen Menschen ein Leben eingerichtet beziehungsweise hergestellt werden, das seinen persönlichen Bedürfnissen angemessen erscheint?

Die Briefe von Inge Jens verdeutlichen aber noch eine weitere Ebene, denn nicht nur für einen Menschen mit Demenz ändert sich das Leben, auch für Inge Jens stellen sich neue Fragen zum eigenen Leben. So gilt es etwa auch, ein ausgewogenes Verhältnis aus Nähe und Distanz zu ihrem Mann zu finden, um die veränderte Situation zu bewältigen. Der Abstand, den sie auf Lesereisen gewinnt, dient auch dazu, das mit ihrem dementen Mann Erlebte zu verarbeiten und der Herausforderung der Pflege eines Dementen mit neuer Energie und Konzentration zu begegnen. Dass sie dennoch gelegentlich mit der Situation überfordert ist, wird ebenfalls nachvollziehbar. Und so lesen sich ihre Briefe als Dokumente einer Person, die um einen angemessen Umgang mit den Schwierigkeiten der Demenz ringt. Die Verbindung aus emotionalem Einfühlungsvermögen und rationaler Analyse trägt wesentlich zum Gelingen bei und verleiht der Publikation nicht allein dokumentarischen Wert, sondern darüber hinaus gesellschaftliche Relevanz, gerade hinsichtlich des rezenten Themenkomplexes der Demenz.

Den zweiten Teil des Buches markiert der überarbeitete Text eines Vortrags, den Inge Jens 2012 bei einer Fachtagung des Caritasverbandes der Diözese Augsburg hielt. Darin plädiert sie vor allem für einen Wandel der Pflegeeinrichtungen und ihrer Angestellten im Umgang mit dementen Menschen. Auch hier ist von einem Spannungsverhältnis zu sprechen, wenn die individuellen Bedürfnisse von Demenz-Patienten auf automatisierte Verfahren im pflegerischen Umgang mit ihnen treffen. Inge Jens wirbt dafür, sich zunächst auf die Charakteristik des Dementen einzulassen, statt sie allgemeinen Regelungen zur Pflege unterzuordnen. Konkret spricht sie zum Beispiel die Ernährung an oder auch den häufigen Personalwechsel in Krankenhäusern, welcher der Orientierung eines Dementen keineswegs förderlich sein kann. Ferner sei zu beachten, dass übliche Kommunikationsnormen nicht immer Geltung haben können, sodass positive oder negative Antworten Dementer nicht allzu vorschnell als ebensolche angesehen werden. Das Ja eines Dementen ist nicht immer auch ein Ja. Vielmehr gilt es zu überprüfen, ob die vorausgegangene Frage eigentlich verstanden wurde. Die intensive Auseinandersetzung mit dementen Personen in Pflegeeinrichtungen, in denen in der Regel Zeitmangel vorherrscht, wird von Inge Jens als global-gesellschaftliche Problematik vor Augen geführt, die zu bewältigen eine Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein dürfte. Und so wird auch hier ihre Intention ersichtlich, zu einer umfassenderen Reflexion der Krankheit Demenz und ihrer konkreten Folgen beizutragen. Das ist der Veröffentlichung zweifelsohne gelungen.

Titelbild

Inge Jens: Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
158 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783498033446

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