Auswandern auf Zeit
Lot Vekemans’ Roman „Ein Brautkleid aus Warschau“ verbindet alte Klischees über Polen mit aktueller Migrationsthematik
Von Bozena Badura
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs hat lange gedauert, bis die Vorurteile gegenüber Polen, wie der übermäßige Alkoholkonsum, wirtschaftliche Unterentwicklung oder hohe Religiosität, die zugegeben für manche Regionen wie Personen tatsächlich zutrafen, sich weiter gen Osten verschoben haben. Umso mehr verwundert es, dass sich Lot Vekemans in ihrem Debütroman entschied, diese alten Klischees aufzuwärmen. Erfreulicherweise hat der Roman aber mehr zu bieten, als der kitschige Anfang es vermuten ließe.
Auf dem Heimweg vom Treffen mit Papst Johannes Paul II. – vermutlich handelt es sich hierbei um die späten 1990er Jahre – verliebt sich Marlena, Mitte zwanzig, ein als naiv inszeniertes polnisches Dorfmädchen, auf den ersten Blick in Natan, einen Amerikaner polnischer Abstammung. Nach zwanzig langen Seiten, auf denen die Liebesgeschichte beider Figuren beschrieben wird, kommt der Herbst genauso abrupt und überraschend wie Natans Rückkehr in die USA. Zurück bleiben Marlenas Hoffnung auf baldiges Wiedersehen sowie ein frisch gezeugtes Kind. Als ihre Mutter die Schwangerschaft entdeckt, stellt sie sie vor eine Wahl: sofortige Heirat mit dem etwas zurückgebliebenen Cousin Janek oder eine Abtreibung. Auf Anraten des Vaters beschließt Marlena, sich dem Willen der Mutter zu widersetzen und flieht, um ihren Geliebten zu heiraten. Der Plan misslingt jedoch, und sie landet in Holland als Ehefrau aus dem Katalog bei dem Milchbauern Andreis. Einige Jahre führen sie und ihr Sohn Stan(isław) bei Andreis ein bequemes Leben, bis Marlena die Nachricht von der Krankheit ihrer Mutter erreicht und sie nach Polen zurückfährt.
Der Roman erzählt aus drei Ich-Perspektiven (Marlena, Andreis und Szymon – Natans Großonkel) drei Geschichten der Flucht und der Rückkehr, berichtet über Heimatgefühle und Fremdheit, und über unzählige Kurzschlussreaktionen oder nicht durchdachte Entscheidungen. Er ist auch ein Provinz-Roman, wobei die unterentwickelte, streng katholische und arme polnische Provinz als Gegenpol zu der Modernität und dem Reichtum der niederländischen Provinz steht. Dies wird vor allem in der Ankunftsszene Marlenas thematisiert:
Die Küche stand voller elektrischen Apparate. Eine Kaffeemaschine, ein Wasserkocher und etwas, das sich später als Mikrowelle herausstellte. Zu meiner [Marlena] Überraschung befand sich in einem der Küchenunterschränke eine Geschirrspülmaschine. […] Dem Arbeitszimmer gegenüber lag der Hauswirtschaftsraum mit Waschmaschine und Wäschetrockner. Ich blieb stehen, um mir die Maschinen anzusehen. Es war das erste Mal, dass ich einen Trockner sah. Bei uns hängte man die Wäsche noch draußen auf. Egal, zu welcher Jahreszeit.
In Polen sind solche Geräte – zumindest dem Roman zufolge – auch zehn Jahre später noch nicht üblich. Denn eine Spülmaschine für Szymons Hotel, das sich am Rande Warschaus befindet, wird erst nach Marlenas Rückkehr aus Holland besorgt: „Wir [Marlena und Szymon] saßen im Auto, hinter uns ein Anhänger, unter dessen grüner Plane eine gebrauchte Spülmaschine für das Restaurant stand. Den Anhänger hatte ich [Szymon] von Nachbar Nowak geliehen, der damit jeden Morgen die Kartoffeln von seinen Äckern auf den Markt fuhr.“
Dieses Gegensatzpaar – reich vs. arm – scheint bei Vekemans an die Liebe gekoppelt zu sein, denn der materielle Reichtum und gute, von einer bedingungslosen Liebe geprägte Familienverhältnisse schließen sich in dem Roman regelrecht aus. Außerdem sind die Figuren dieses Romans entweder Familienmitglieder oder Nachbarn, woraus die besondere Rolle der Familie abzuleiten ist.
Ein weiteres Thema im Brautkleid aus Warschau ist die gestörte Kommunikation, die sich durch das Schweigen, fehlende Fragen und das Nicht-Zuhören der Figuren realisiert. Die Figuren entwickeln stets ihre eigenen Wahrheiten und legen diese ihren Überzeugungen zugrunde, wie es sich an den folgenden zwei Stellen veranschaulichen lässt:
Nie ließ er [Andreis] mich [Marlena] näher als einen halben Meter an sich heran, und der einzige Kuss, den ich vor ihm bekam, war bei der Hochzeit auf dem Standesamt. Ich dachte, er fände mich hässlich, doch erst sehr viel später bekam ich das Gefühl, dass er sich seiner Frau gegenüber schuldig fühlte. Seiner verstorbenen Frau.
In Andreis’ Geschichte ist Ähnliches zu beobachten:
Ich [Andreis] war einunddreißig Jahre alt, als ich von meinen Eltern mit Annetje verkuppelt wurde, meiner ersten Frau. […] Ich habe mich nie getraut, Annetje anzufassen. Bei unserer Hochzeitsnacht war ich froh über ihren Vorschlag, die Betten auseinanderzuschieben. […] Mit war es vorläufig intim genug, zusammen in einem Zimmer zu schlafen. Ich war überzeugt, dass sie genauso darüber dachte.
Eine zentrale Stellung nimmt in der Handlung Stan ein, der, entsprechend dem polnischen Sprichwort ‚Kinder und Fische haben keine Stimme‘, nie nach seinen Wünschen oder Meinung gefragt wird. Seine Proteste gegen das Wohnen in Polen werden von Marlena stets ignoriert; sogar sein andauernder lautloser Schrei – sein Schweigen – erzielt nicht den gewünschten Effekt, wird vielmehr ignoriert. Erst nach einem Jahr seines Stillschweigens geht Marlena mit ihm zu einem Psychiater. „Selektiver Mutismus“ heißt die Diagnose, ein Trauma sei der Auslöser. Von dem Arzt gefragt, ob sie die Ursache vermute, zeigt sie sich überrascht und ahnungslos.
Lot Vekemans ist eine in den Niederlanden geborene Schriftstellerin, die bisher für ihre Theatertücke (auch auf den deutschen Bühnen) bekannt wurde. Ihr Debütroman (orig. Een bruidsjurk uit Warschau) wurde für den Anton Wachterprijs 2012, den zweijährlich ausgelobten Preis für das literarische Debüt, nominiert. Übersetzt wurde der Roman von der in Berlin geborenen deutsch-niederländischen Regisseurin und Übersetzerin Eva Maria Pieper und ihrer Kollegin Alexandra Schmiedebach. An dem Aufbau des Romans lässt sich diese Theater-Vorgeschichte der Autorin erkennen. Denn der Roman ist wie ein Dreiakter konzipiert, wobei sich bei jedem der drei Teile wiederum Exposition, Konfrontation und Auflösung festmachen lassen. Jeder neue Teil wird durch einen Wendepunkt am Ende des vorangegangenen vorbereitet, der eine weitere Richtung für die Geschichte bestimmt. Als störend erweist sich allerdings ein spürbarer Zwang, die Handlung auf die Katastrophe treiben zu lassen. So öffnet Marlena beispielsweise mehrere Monate Natans Briefe nicht, nur damit Stan diese dann finden und öffnen kann – was in einer erneuten Flucht resultiert. Auch die doppelte Problematisierung wird hier ersichtlich: Das äußere Problem stellt das Kind dar, dessen Existenz die Handlung in Gang setzt und vorantreibt. Das innere Problem liegt in der Ziel- und Planlosigkeit der Figuren, die entweder durch andere Figuren oder die äußeren Umstände stets fremdbestimmt werden. Zudem gehen alle drei Hauptfiguren auf eine Reise, die ausnahmslos in die Heimat zurückführt. Denn Flucht und Migration haben in dem Roman nur einen temporären Charakter.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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