Schmucklos, präzise und lebendig

Aleksandr Pusckins sämtliche Erzählungen in neuer Übersetzung

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wovon träumt ein Sargmacher, der wütend zusehen muß, wie der benachbarte Schuster mit seinen zufriedenen Kunden Silberhochzeit feiert? Richtig, von einer eigenen Feier. Mit seinen Kunden. Nicht allen, versteht sich. Nur mit denen, die noch irgendwie laufen können; die bereits völlig Verfallenen müssen selbstverständlich in ihren unterirdischen Domizilen zurück bleiben.

Die "Schule der russischen Prosa" nannte der Kritiker Jurij Tynjanov Aleksandr PuŠkins "Erzählungen Belkins", in denen auch die obige Humoreske mit dem Titel "Der Sargmacher" enthalten ist. Alle großen russischen Autoren des 19. Jahrhunderts haben diese Schule durchlaufen, darunter Lermontov, Gogol, Turgenev. Die polyphone Schreibweise Dostoevskijs findet sich bereits in PuŠkins Erzählung "Der Stationsaufseher". Und Tolstoj übernahm von PuŠkin nicht nur das Mittel der historisch-philosophischen Digression für seinen Roman "Krieg und Frieden"; "Anna Karenina" wäre ohne PuŠkins Fragment "Im Landhaus trafen die Gäste" nie geschrieben worden. Auch Cechovs "Insel Sachalin" wäre ohne PuŠkins "Reise nach Arzrum" nicht denkbar.

Aleksandr PuŠkin, zu dessen 200. Geburtstag am 6. Juni 1999 die Berliner Friedenauer Presse sämtliche Erzählungen in einer neuen, kongenialen Übersetzung Peter Urbans herausgibt, ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Die einzige vollständige Ausgabe von PuŠkins Prosawerken erschien in den 20er Jahren; seither mußten sich seine hiesigen Leser mit Auswahlbänden begnügen. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, daß PuŠkin in Rußland als der größte Schriftsteller des Landes verehrt wird.

Berühmt wurde er zunächst mit seinem Versroman "Evgenij Onegin", mit dem er in der Lyrik 1825 einen unerreichten Höhepunkt markierte. Umso enttäuschter waren seine Anhänger, als er sich daraufhin von der Lyrik ab- und der Prosa zuwandte. Heute weiß man, daß es PuŠkin war, der mit seinen Geschichten, darunter die schon mehrmals verfilmte, von E. T. A. Hoffmann inspirierte phantastische Erzählung "Pique Dame" über den Wahn eines Kartenspielers, die moderne russische Prosa überhaupt erst ins Leben rief. Seine poetischen Grundsätze - kein Schwulst, keine Affektiertheit, dafür eine schmucklose, präzise und lebendige Prosa - markieren einen Bruch mit den langatmigen, theatralischen Briefromanen des späten 18. Jahrhunderts und den historischen Romanen im Stile Walter Scotts, wie sie seinerzeit in Rußland in Mode waren. Ein Bruch, der sich nur langsam in der Gunst des Lesers durchsetzen konnte.

"Mit der ganzen Freiheit des Gesprächs oder des Briefs" wollte PuŠkin seine Erzählungen schreiben. Seine wegweisende Modernität kann nun auch hierzulande endlich in einer angemessenen Übersetzung bewundert werden.

Aleksandr PuŠkin: Die Erzählungen. Einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe - mit einem

Titelbild

Alexander S. Puschkin: Die Erzählungen. Einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe - mit einem Nachwort, einer Zeittafel und Anmerkungen.Neu übersetzt und herausgegeben von Peter Urban.
Friedenauer Presse, Berlin 1999.
475 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3932109112

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