Aber was ist Europa?
Der Österreicher Karl Markus Gauß buchstabiert Europa aus neuer Sicht
Von Claude D. Conter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer österreichische Essayist Karl-Markus Gauß legte 1997 im Paul Zsolnay Verlag ein "Europäisches Alphabet" vor, das als "Handbuch für skeptische Europäer" in der Post-Maastricht-Ära die ideologischen Strukturen des Europa-Jargons in Politik, Medien und Alltag aufdecken will. Im Deutschen Taschenbuch Verlag ist nun die Lizenzausgabe erschienen. In 31 Begriffen von "Auswanderung" bis "Zwei Europa" geht Gauß der (sprach-)kritischen Frage nach, wie Begriffe innerhalb Europas unter veränderten historischen, politischen und kulturellen Bedingungen neu semantisiert und zu Zwecken der politischen Persuasion genutzt werden. Er untersucht sowohl die Gründe für die Floskelhaftigkeit der europäisch besetzten Themen als auch die Folgen, die er in der Ideologisierung von Europa entdeckt.
So genau Gauß auch mit Details umgeht, so klug seine Beobachtungen in Alltag und Medien auch sind, so fragwürdig ist seine Ausgangsposition. Sein Vorwurf in der breit gefächerten Europa-Diskussion tangiert die europäischen Abgrenzungsversuche. Beseelt vom Gedanken der Völkerverständigung fordert Gauß einen offenen Europabegriff. Sein normativer Ansatz überrascht deshalb, weil er mit den von ihm ausgewählten Beispielen und Lemmata deutlich macht, daß die Polysemie des Begriffes Europa eine Einheitsvorstellung in Geschichte und Gegenwart ausschließt. Der politische Diskurs hat sich schon immer vom kulturellen, geographischen und mentalitätsgeschichtlichen Diskurs unterschieden. Deshalb ist es unlauter, wenn Gauß seine Kritik konzentriert auf einen diffusen und verallgemeinerten Einheitsbegriff Europa, den es nicht gibt. Er reflektiert nicht, dass er sich mit seinen Forderungen von freundschaftlicher Nachbarschaft, Respekt, Toleranz und Frieden einordnet in ganz bestimmte Europadiskurse. Seine Apodiktik wird zur neuen normativen Europavorstellung, die selbst wieder der diskursanalytischen und ideologikritischen Prüfung bedarf.
Ein Beispiel zur Illustration: Unter dem Stichwort "Zwei Europa" zeigt Gauß auf, dass es innerhalb des Kontinentes in der Politik und in den Bevölkerungen die Tendenz gibt, bestimmte europäische Länder aus jeweils unterschiedlichen Gründen auszugrenzen. Europa schaffe und diktiere seine eigene Peripherie durch die Unterscheidung in zwei Europa: in der Vorstellung eines "Kerneuropa" oder eines Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, im Wunsch eines christlichen Europa, das sich abgrenze von einem nichtchristlichen Teil oder in der politischen Einteilung in ein West- und Osteuropa. Gauß zeigt gleichzeitig, dass diese Unterscheidungen "gerade dort so großen Zuspruch finden, wo der Nationalismus einst besonders stark war und das Lied von der Überwindung des Nationalismus in einem einigen Europa heute besonders laut gegrölt wird." Gauß setzt sich aber ebenfalls dem Vorwurf aus, zwischen zwei Europa zu unterscheiden, wenn er als Österreicher seinen Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa legt. Die Völker im Baltikum, im Donau-und Karpatenraum werden zu Illustrationszwecken immer wieder herangezogen. Dabei scheint Gauß die westeuropäischen Länder (fast) zu vergessen - es sei denn, dass sie herhalten müssen für die negativen Konnotierungen mit dem Begriff Europa. Gauß begibt sich in einen dekonstruktivistischen Zirkelschluss, wenn er die Polarisierung in zwei Europa ideologiekritisch bekrittelt und gleichzeitig sich dieser Konstellation bedient, um ein mittel- und osteuropäisches Bild entstehen zu lassen. Er selbst zieht "Grenzen".
Wogegen Gauß polemisiert und häufig unsachgemäß und ohne profunde politische Kenntnisse stänkert, konstituiert jedes politische Gebilde, ob es sich um ein europäisches oder nationales handelt. So wirft er "Europa" (wahrscheinlich ist die Europäische Union gemeint) vor, Grenzen zu ziehen. Doch seine Kritik wandelt sich von einem europäischen Mangel zu einer allgemeinen Beobachtung, die zwar auch für Europa geltend gemacht werden könnte, aber dennoch nicht spezifisch für Europa ist. Das "logische Prinzip", nach dem Europa seine Grenzen zieht, lässt sich auf andere, regionale und staatliche Disktinktionsversuche übertragen: "Egal, welches geographische, kulturelle, religiöse, sprachliche, historische Kriterium gewählt wird, die Grenze vorgeblich gerecht zu ziehen, immer ist die Grenze auch eine Verletzung von individuellen und kollektiven Ansprüchen, denen sie entgegensteht." Die Anmerkungen über die "Mobilität" gehören eher in den Globalisierungsdiskurs; sie ist kein Spezifikum Europas.
Dass die Auswahl der Begriffe eklektizistisch ist, ist bei solchen Unterfangen nicht zu vermeiden. Ob aber "Xarnegu", Srce" oder "Pronari" notwendig sind für ein europäisches Alphabet, darf angezweifelt werden. Dass nicht einmal der Mythos Europa erwähnt wird, ist um so unverständlicher. Von vergleichbaren Versuchen, in ein bestimmtes Thema mit einem Minimalalphabet einzuführen, unterscheidet sich Gauß durch einen deutlichen Verzicht auf Repräsentativität der Informationen zu Europa. Insofern kann er kein "Handbuch" schreiben; seine essayistischen Aphorismen, die detaillierten und gelegentlich auch pointierten Denkanregungen sind nicht vergleichbar mit der "Encyclopedia of the European Union" (2000), "Europa von A-Z" (2000), "Europa-Handbuch" (1999). Handbücher zu Europa gibt es bereits: "Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte" (1999) oder "Die Europäische Union. Ein Kompendium aus deutscher Sicht" (1999). Sie sind informativ und erfüllen den Zweck eines Minimalwissens über Europas Geschichte und Gegenwart, so dass eine Neuauflage von Gauß' Buch andere Gründe haben muss. Es stellt höchstens ein alternatives Alphabet dar, das sich als Plädoyer für die Osterweiterung und für eine mitteleuropäische Bedeutsamkeit liest und kontrapunktisch zu westeuropäischen Sichtweisen konzipiert ist. "Europa, wissen die Geologen, ist also unausgesetzt in Bewegung, nichts steht ein für allemal fest, was heute vermessen wurde, schlägt morgen schon falsch, und wo jetzt noch Rand ist, mag bald schon Mitte sein." Es bleibt aber offen, inwiefern das Buch für "skeptische Europäer" nützlich ist. Gauß' Polemik und Verallgemeinerungen fordern nicht zu Diskussion heraus, sondern schmücken sich mit selbstgefälligen Sentenzen: "Der Weg über die geweihte Erde Europas führt über Schädelstätten."
Mit Esprit will manches verstanden werden, was in der Parodie stecken bleibt. Gauß' Vorschlag, die europäische Geldwertung statt Euro "Ymir" zu nennen, blieb glücklicherweise in Brüssel ungehört. Ob der altnordische Uriese, aus dem die Welt geschaffen wurde, wirklich als monetäre Ikone dienlich gewesen wäre, darf man hinterfragen. Diese Randnotiz würde einen nur geringen Stellenwert besitzen, wenn sie nicht typisch für das gesamte Alphabet wäre. Für eine Parodie ist die Anmerkung zu ernst, da 1 Ymir mit dem Wechselkurs von 10 DM oder 70 Schilling veranschlagt wird. Zum anderen ist die Pointe zu recherchiert (wenn auch Y zugegbenermassen ein schwieriger Buchstabe für ein europäisches Alphabet ist). Und die ideologischen Konsequenzen eines expliziten Eurozentrismus scheinen nicht mitbedacht zu sein. Denn dass die Welt aus Europa heraus geschaffen würde, ist heute eine politische und kulturelle Torheit. Mit der europäischen Währung hat der österreichische Verfasser sowieso seine Schwierigkeiten. Über weite Strecken ist sein Buch kein "Handbuch für skeptische Europäer", sondern für Euroskeptiker: "Die Währungsunion mit der genialen Erfindung einer Währung, die gemeinsam ist, aber nicht für alle, weil einige nicht nur gleicher als gleich, sondern auch gemeinsamer als gemeinsam sind, also wieder ganz unter sich, die Währungsunion wird es den mächtigen Staaten, der Grande Nation und dem einig Vaterland, ermöglichen, zugleich ihre nationalistischen Ziele rücksichtslos zu verfechten und dabei doch als die besseren Europäer zu erscheinen. Sage einer, das Europa der Ökonomen wäre ein phantasieloses Gebilde!" Die Neuauflage ist wohl auch der euroskeptischen Öffentlichkeit zu verdanken.
"Das Europäische Alphabet" von Karl-Markus Gauß hätte eine aufklärungskritische Glosse sein können. Aber es hat sich nicht vom Niveau politischer Kommentare in Comedy-Shows abheben können.
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