Schülertagebücher, damals

Thomas Kasturas Anthologie "Unter dem Rohrstock"

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schüler- und Schulgeschichten stehen in einer langen Tradition, man denke nur an Torbergs "Der Schüler Gerber" (1930), Grass' "Katz und Maus" (1961) oder Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." (1973). Sie thematisieren Angst, Unterdrückung und Leid durch Schul-Obrigkeiten, Mitschüler oder Eltern, aber auch die Auflehnung gegen sie. Noch weiter zurück geht Thomas Kasturas Anthologie "Unter dem Rohrstock. Schülerleben um 1900", die Einblicke gibt in die Schülerleben von Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Thomas Mann, Heinrich Mann, Ludwig Thoma und Robert Walser, um nur einige der hier mit ihren Schüler- und Schul-Geschichten vertretenen Autoren zu nennen.

Gerade mal hundert Jahre ist es her, dass körperliche Züchtigung und stupides Auswendiglernen in deutschen Schulen alltäglich waren und eine Generation heranwuchs, die sehr unter dem wilhelminischen Verständnis einer militarisierten Gesellschaft von Disziplin, Leistung und Standeswahrung zu leiden hatte, und unter einem Bildungssystem, das gänzlich auf die Vermittlung von Staatstreue und Tradition ausgerichtet war. Es sind nicht nur Einzelschicksale, die in den neunzehn Geschichten verewigt wurden, sondern es ist das Los einer ganzen Generation Heranwachsender, die unter der Erwachsenenwelt zu leiden hat.

Das Bild der Schulen damals und des Lebens ihrer Schüler ist kein schönes und scheint weit entfernt von den Erinnerungen an die Schulzeit des heutigen Lesers. Schulen haben sich zweifelsohne verändert. Der Rohrstock ist arbeitslos, der Lehrplan sieht zumindest die Anleitung zu selbstständigem Denken vor und von Lehrern werden pädagogische Fähigkeiten erwartet.

Doch wie sieht es mit den Schülerleben aus? Hat sich das Erleben der Schüler verändert? Kastura möchte seine Anthologie als Vorläufer zu heutigen Schulgeschichten verstanden wissen, sieht er doch in Benni, der Hauptfigur in Benjamin Leberts Roman "Crazy", einen direkten Nachfahren der wilhelminischen "Schulgeschädigten". Auch heute sind Schüler dem Leistungsdruck, den elterlichen Erwartungen und manchmal sogar psychischen Kleinkriegen mit Lehrern ausgesetzt. Dass sich die Schule als Institution bedeutend gewandelt hat, belegen die Beispiele des Schulalltags zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, aber sie belegen auch, das Erwachsenwerden weder damals noch heute ein leichtes Unterfangen war und ist. Letztendlich haben die Geschichten auch deshalb heute noch Relevanz.

Titelbild

Thomas Kastura: Unter dem Rohrstock. Schülerleben um 1900.
Goldmann Verlag, München 2000.
414 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3442076951

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