Familiendesaster

Sybille Lacans larmoyante Rache an dem abwesenden Vater

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lektüre dieses Buches wird allerhöchstens durch das Begehren in Gang gehalten, möglicherweise doch noch etwas Wissenswertes über Jacques Lacan zu erfahren oder zumindest Allgemeingültiges über familiäre Stukturen des 20. Jahrhunderts, vielleicht auch, um Interessantes über ein beispielhaftes Familiendesaster zu lesen. Was man dann unter dem Strich erhält, ist das Krankheitsbild einer depressiven Persönlichkeit, das ohne Entfaltung neuer Perspektiven nachgezeichnet wird.

Die larmoyanten Anklagen Sybille Lacans gegen ihren - wie sollte es anders sein bei Lacan - stets abwesenden Vater, nach dem sie ein unstillbares Begehren hat, ergießen sich glücklicherweise auf gerade mal achtundsiebzig Seiten (mit viel Leerraum). "Ich bin die Frucht der Verzweiflung - manche werden sagen: des Begehrens, aber ihnen glaube ich nicht", schreibt die Tochter und: "Ich wies ihm die Schuld am Familiendesaster zu [...] und machte ihn verantwortlich für den Zusammenbruch am Ende meiner Adoleszenz." Wut hat sie auch auf Mutter, Schwester und Stiefschwester. Allein den Bruder Thibaud nimmt sie aus, kann ein Bruder ihr doch am wenigsten den zum Heilsbringer stilisierten Vater abspenstig machen.

Die wenigen großgedruckten Seiten reichen, um sich über folgendes klar zu werden: Die Autorin bzw. Erzählerin, die während ihrer ganzen Kindheit und Jugend die einzige Tochter Lacans sein wollte, will dies als nunmehr fast sechzigjährige Frau immer noch. Da der Vater sich jedoch kurz vor oder gleich nach der Geburt einer anderen Frau und mit ihr seiner kurz nach ihr geborenen anderen Tochter - ihrer Lebensfeindin Judith - zugewandt hatte, ist sie Zeit ihres Lebens einem entsetzlichen Leiden daran ausgesetzt. Das "grausame Schicksal", die "Qual", den einzigen Menschen, der sie ihrer Meinung nach wirklich verstanden hätte, Zeit ihres Lebens missen zu müssen (obwohl er sich während ihrer Kindheit einmal wöchentlich, später in größeren Abständen um sie kümmert, und sie zum Beispiel noch als Dreißigjährige finanziert), schildert sie bruchstückhaft. "Puzzle" lautet der Untertitel dieser Fragmente treffend, die sie erst am Ende in eine bestimmte Reihenfolge zusammengesetzt hat - nicht ohne dabei das Vokabular des geistigen Vaters so auffallend vieler Akademikerinnen der letzten Jahrzehnte anzuwenden (Diskurs der Mutter, symbolische Ordnung, der anerkennende Blick des Anderen im Spiegelstadium, das Begehren etc.). Ob Lacan tatsächlich der leibhaftige oder nur der geistige Vater bzw. der symbolische Vater ist, den wir alle haben, tut dabei eigentlich nichts zur Sache. Das Buch bietet weder wissenschaftshistorisch noch literarisch sonderlich Bemerkenswertes.

Psychologisch ist es höchstens in seiner abschreckenden Wirkung wertvoll: Vor Schuldzuweisungen an die eigene Kinderstube wird man sich nach so viel Zeilen Selbstmitleid mit Sicherheit in nächster Zukunft hüten.

Titelbild

Sibylle Lacan: Ein Vater. Puzzle. Aus dem Französischen von Leopold Federmair.
Deuticke Verlag, Wien/München 1999.
78 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3216303985

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