Das Musen-Monster
Robert C. Marsh porträtiert eine Dirigenten-Ikone
Von Eike Brunhöber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie menschliche Stimme ist der "Wesenskern", gewissermaßen das Epizentrum klassischer Musik - eine Grundsatzhypothese des Stardirigenten James Levine, die ein Schlüssel zu seiner Musikphilosophie ist. Die Singstimme berge am unmittelbarsten den "expressiven Inhalt eines Textes", woraus für den Instrumentalisten folge, dass er sein Instrument weniger spiele, als vielmehr damit singe.
Spannungsvolle Erarbeitungen wagnerscher Opern, tiefgründige Ausleuchtungen mahlerscher Sinfonien, mozartsche Klassik voller Esprit - Der 57jährige James Levine, Musikdirektor der New Yorker Metropolitan Opera und Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, gehört zu den bemerkenswertesten Musiker-Persönlichkeiten unserer Zeit. Was macht den Verve und die Magie dieses Dirigenten aus, der unprätentiös auftritt, frei von Allüren ist, in Proben jeglichen Jähzorn vermissen lässt und den Dialog mit den Musikern sucht?
Eine Frage, für die die eine Antwort eines mit Levine seit 25 Jahren befreundeten Musikkritikers prädestiniert scheint. Das Buch ist biographische Abhandlung, Gespräch von Autor mit Künstler, Beschreibung des Arbeitsalltags des Dirigenten sowie Diskographie. Robert C. Marsh entlockt dem Dirigenten sein Bekenntnis zur Singstimme als "Urgrund" allen Musizierens.
Davon abgesehen erfährt man jedoch herzlich wenig über Erlebnisse oder Denkweisen Levines, die es in spannender Suche in dessen Werkinterpretationen wiederzufinden gälte; stattdessen ergeht sich Marsh in oberflächlicher Glanzpapier-Schilderung des Lebens eines Pultstars, wie man sie als Stereotyp in den gewöhnlichsten Boulevard-Magazinen genauso finden kann: James gilt selbstverständlich als Klavier-Wunderkind, um das sich die berühmte "Juillard School of Music" reißt, dirigiert im Alter von 23 Jahren das erste Mal das "Cleveland Orchestra" und geht - wie es sich für einen ehrgeizigen Menschen gehört - einen schnurgeraden Lebensweg ohne jegliche Identitätsprobleme, und so steht auch eruptiven Erfolgsausbrüchen nichts mehr im Wege. "Der neunjährige Jimmy studiert den Klavierauszug von Gounods "Faust" ist ein Foto im eingefügten Bilderteil untertitelt, auf dem man den jungen James entspannt im bequemen Wohnzimmersessel sitzen sieht, die Beine lässig übereinandergeschlagen, den Klavierauszug dekorativ dem Kameraobjektiv präsentierend, die Augen indes in die gegenüberliegende Zimmerecke gerichtet.
Einen heiß ersehnten Einblick in Levines Geistesleben und Denkweisen erhält man erst im späten Verlauf des Buches, wenn zur Sprache kommt, dass Levine seine Werkinterpretationen vor dem Hintergrund seiner Verehrung humanistischer Grundsätze zu entwickeln trachte: Ausgeprägte Ehrfurcht vor der menschlichen Natur, Glaube an kulturelle Entwicklung, die Förderung der Bemühungen jedes Einzelnen, nach Erkenntnis und höherer Bewusstseinsstufe zu streben sowie Anlehnung an Kant und die Weimarer Klassik sind Levines Ausgangs- und Orientierungspunkte.
Doch auch diese Erwägungen nehmen in Marshs Buch nur wenig Raum ein und sind in wenigen Sätzen abgehandelt, wohingegen er etwa auf die mehrere Seiten lange, detaillierte Schilderung der Metropolitan-Gala anlässlich Levines 25jährigen Bühnenjubiläums voll platter Lobhudeleien allergrößten Wert legt. Levine sei, wie es etwa in der Laudatio des Met-Chores hieß, "anregend, aufmerksam, ausdrucksstark, bereichernd, berühmt, beschwingt, ein Bonvivant, brillant, charismatisch, dynamisch, ehrfurchtgebietend, einzigartig, engelhaft"- doch halt! Wer an der vollen Länge derartiger literarischer Leckerbissen interessiert und von Berichten über den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf nicht entwöhnt ist, möge sich bitte Marshs Buch kaufen. Dort kommentiert der Autor jene galoppierende Wortinflation mit einem "Und das stimmt auch noch alles!" und überzeugt den Leser endgültig auf eindringlichste Weise, dass ohne kritische Distanz zur betreffenden Person keine ernst zu nehmende Biographie zu verfassen ist. "Dass meine Aussagen über Levine der Wahrheit entsprechen, beweist sich, wenn wir ihm bei der Arbeit zusehen", behauptet Marsh, um dann im folgenden zu beweisen, dass 370 Seiten Heldenverehrung in durchweg uninspirierter und spröder Sprache voll überflüssiger Informationen schlechterdings kein Lesespaß sind.
"Die Leute brauchen ihren Götzen", sagte einmal ein Mitglied des Berliner Philharmonischen Orchesters, als es auf die allgewaltige Karajan-Verehrung angesprochen wurde. Einen solchen Götzen schafft sich und anderen auch Marsh. Er findet bei der Beschreibung des gesamten Schaffens Levines keine Reibungspunkte, erklärt sämtliche Aufführungen und Aufnahmen für richtungsweisend, redet ihm in den nachträglich mühsam auf Druckreife zurechtformulierten Dialogen nach dem Munde und stellt seinen Pultstar permanent als makellosen Gutmenschen dar. Zwar darf man durchaus glauben, dass viele Orchester unter Levines Dirigat und angesichts seiner freundlichen Art die übliche Arbeitsroutine über Bord werfen und wieder mit Freude musizieren; doch muss man es Marsh wirklich abnehmen, dass sich etwa Levines Met-Orchester zu einer "glücklichen Orchesterfamilie" entwickelt habe, in der "echter Korpsgeist" herrsche? Und dass Levines Gastdirigate bei der Tournee der "Drei Tenöre" zwischen 1996 und 1998 nicht in erster Linie des Geldes wegen, sondern vor allem aus Freude am gemeinsamen Musizieren und der selbstlosen Absicht, einem breiten Publikum klassische Musik nahezubringen, zustande kamen? Geld sei, so Marsh, für Levine eine "abstrakte Größe", die ihm "nicht sehr viel bedeute". Fast ist man geneigt, ihm zuzustimmen, denn geschätzte 500.000 Dollar Gage pro Konzert sind in der Tat eine recht abstrakte Größe. Und was bedeuten einem idealistischen Vollblutmusiker schon parallel laufende Proben für die Bayreuther Festspiele, wenn er die "Drei Tenöre" "O sole mio" ("O Kohle mio" titelte damals Die Zeit) schmettern lassen kann?
Marshs Lobhudelei ist in ihrer Penetranz keine Seltenheit. Schöpferische und künstlerische Kreativität sind Eigenschaften, die gemeinhin als für das Alltagsleben nur bedingt erforderlich gehalten werden; lieber billigt man das Ausführungsmonopol dieser Wesenszüge den künstlerischen Berufen zu, die offensichtlich damit zu tun haben. So wird etwa Musikern, Schriftstellern oder Malern bei entsprechendem Bekanntheitsgrad oft eine Art von Verehrung entgegengebracht, die eher einer Heldenverehrung, als einer eingehenden Auseinandersetzung mit ihrem künstlerischen Schaffen entspringt, denn die Identifikation beruht auf einer Ersatzhandlung: Pultstars wie Levine verkörpern im Großen das Ausleben von Kreativität, dessen man sich im Kleinen gemeinhin enthält. Nicht jeder, der sich irgendwie dazu berufen fühlt, sollte deshalb nun eine Mahler-Sinfonie dirigieren. Aber ein ganzes Buch mit geballter Götzenanbetung ist bei der Annäherung an das Werk eines der unbestritten musikalischsten Dirigenten der Musikwelt ebenfalls kontraproduktiv.
Marsh macht dabei auch die wenigen Passagen seines Buches, die erhellend sind, letztlich selber zunichte. Die Notwendigkeit der mehrfachen Einspielung eines musikalischen Werkes durch verschiedene Musiker sowie des Anhörens mehrerer unterschiedlicher Interpretationen, so sinniert er etwa in einem Dialog mit Levine, lasse sich in einem Vergleich mit der in einem Chicagoer Museum ausgestellten antiken Statue der "Aphrodite von Knidos" aufzeigen: man könne sich diese Statue stundenlang immer wieder betrachten, indem man um sie herumgehe, so dass sie sich dem Betrachter durch veränderten Blickwinkel und Lichteinfall immer wieder anders präsentiere und bisher nicht wahrgenommene Facetten offenbare. Doch sobald Marsh auf Levine zu sprechen kommt, widerlegt er dieses Bild sogleich durch einen tiefen Griff in die Mottenkiste der Musikkritik selbst: "Levines Geschmack ist mustergültig", doziert er - in Marshs dictum fällt demnach mit einer Levine-Interpretation ein unvergleichlich heller, gleißender Lichtstrahl auf die Statue, der den Betrachter blendet und sie Schatten werfen lässt, die so dunkel sind, dass alles andere, sobald von ihnen verschluckt, bedeutungslos wird. Ob dies Levine, von dem Marsh immer wieder behauptet, er sehe sich als Diener der Musik, wohl recht wäre?