Allerlei Geschichten von Mirjam
Regina Berlinghof stellt die Botschaft Jesu fundamental in Frage
Von Reinhard Görisch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRegina Berlinghofs Roman "Mirjam" aus der Zeit Jesu beginnt mitten in unseren Tagen. Ein junger Jesuitenpater und Archäologe hat am Toten Meer Schriftrollen aus frühchristlicher Zeit entdeckt, in denen ein Mann namens Yoram die Lebensgeschichte der Maria Magdalena überliefert - jener nicht ganz eindeutigen Gestalt aus dem Bannkreis Jesu, die in den Evangelien an einigen wichtigen Stellen auftaucht, von der man dort aber doch weniger erfährt, als der mitmenschlichen Wissbegierde Genüge tun kann. Dem helfen die gefundenen Schriftrollen ab, freilich mit viel weiter reichender Tragweite, die befürchten lässt, dass der Vatikan den Fund wie üblich bei unliebsamen Störungen der christlichen Dogmatik in der Versenkung verschwinden lassen wird. Deshalb informiert der fündig gewordene Pater einen amerikanischen Journalisten, der die Entdeckung brandheiß und weltweit, aber wie üblich sensationsgierig als "Evangelium der Maria Magdalena" verbreiten wird, während der Pater betont, es sei doch nur deren 20 Jahre nach Jesu Tod von anderer Hand aufgezeichnete Lebensgeschichte. Außerdem lässt der Pater eine Abschrift der Schriftrollen einer amerikanischen Professorin für Semitistik zur Auswertung zukommen, mit der er Jahre zuvor ein von ihm dann abrupt beendetes Verhältnis hatte. Was das zur Sache tut? Viel, denn damals, so schreibt der Pater, habe er zwischen der Geliebten und seinem Glauben wählen müssen, nun aber sehe er "dieses strenge Entweder-Oder" nicht mehr: "Die Schriftrollen haben mich verändert." Also doch ein Evangelium der Maria Magdalena, wenn der Fund eine derartige Umkehr der Gesinnung bewirkt?
Bis wir davon Näheres erfahren, vergeht noch ein Weilchen. Denn zwar präsentiert der Roman (570 Seiten lang in fünf Teilen und 25 Kapiteln wortreich und stellenweise redundant erzählt) nach diesem Rahmen-"Prolog" die Schriftrollen im Wortlaut, die enthalten aber die in Ich-Form erzählte Lebensgeschichte jenes Yoram, der, nach Enttäuschungen mit Menschen und Lehren am Verzweifeln, "Wahrheit und Güte [...] einzig bei einer alten Frau [findet], die alle eine Närrin nennen", eben bei Maria Magdalena, nun Mirjam genannt. Deren Geschichte ist eingebettet in Yorams eigene (eine weitere Rahmenhandlung also), mit der wir, bis zu beider Begegnung, erst einmal ausführlich vertraut gemacht werden. Und in die Geschichte Mirjams (die in Yorams Aufzeichnungen als Ich-Erzählerin agiert) ist wiederum ein Kapitel eingeschaltet, in dem die Mutter Jesu (hier Mariam genannt) sozusagen authentisch "all die kleinen Geschichten" aus Jugend, Familie und Alltag ihres Sohnes Jeschua erzählt, die dieser und die Evangelien uns vorenthalten. Mit alledem wird der Roman gebührend episch breit mit vielen Erzählsträngen und Erzählebenen, zahlreichem Personal, viel Gelegenheit zu Lokalkolorit und geschichtlichem Hintergrund; er bietet jedenfalls mehr, als der Romantitel zusagt, und das Personenverzeichnis am Schluss kann man gut gebrauchen.
Was nun Mirjams eigene Geschichte betrifft, so erfahren wir zunächst wieder ausführlich von ihrer Herkunft, unglücklichen Ehe und Selbstfindung bis zur ersten Begegnung mit Jeschua/Jesus. Statt Mirjam 'geheilt' zu ihrem ungeliebten Mann zurückzuschicken, nimmt der "Wunderrav" (Rabbi) sie als seinen männlichen Begleitern gleichgestellte "Schülerin" in seine Gruppe auf, sie wird zur Zeugin seiner Reden und Taten. Wohl hört sie seine Botschaft, allein die wird ihr bald nebensächlich. Denn Mirjams Fasziniertheit von der Art, wie "der Rav [alle] verzauberte", verquickt sich sofort mit heftiger Liebe zu ihm: "Offen, klar und nackt stand es vor meinen Augen: Ich liebte ihn! Und ich liebte ihn nicht nur als Schwester oder als kindliche Schülerin, ich liebte als Frau und wollte auch als Frau wiedergeliebt werden". Diese Liebe bleibt freilich zunächst heimlich und unerwidert. Nach zeitweiliger Entfernung von Jeschua und seiner Gruppe und einer leidenschaftslosen Affaire in römisch-griechischer Gesellschaft (die sie "in einen schwarzen Strudel des Ekels vor mir selbst" stürzt), findet Mirjam dank eines besorgten Briefs von Mariam zu Jeschua zurück, der mit seinen Leuten inzwischen in Jerusalem weilt und "viel Zulauf" hat, sich jedoch gerade allein in die Wüste zurückgezogen hat. Dort findet Mirjam ihn in einer Höhle; in ellenlangen Gesprächen zeigt er sich von existentiellen Selbstzweifeln und verfehlter Menschen- und Gottesliebe gequält, und dann kommt, was kommen muss: "Wir sahen einander an - und wir sahen uns selbst und die Liebe, die uns verband. Nichts anderes gab es mehr - nur uns beide und unsere Liebe. Nackt und klar erkannten wir sie. Unsere Körper neigten einander zu. [...] Unsere Leiber erzitterten unter der Berührung [...]. Die Vereinigung geschah" usw. Dieser gleichermaßen universalen wie körperlich-ekstatischen Erfahrung folgt Jeschuas seitenlang weiterreflektierte Einsicht: "Nur wenn ich ganz liebe, bin ich dem Göttlichen nahe. [...] wenn ich dich ganz liebe, dann liebe ich auch Gott ganz. Und wenn ich Gott ganz liebe, liebe ich auch dich ganz - oder auch einen Kieselstein!" Denn - so beendet Yoram auch seine Aufzeichnungen - "das Wunder der Liebe [...], das Erkennen des Einsseins mit allen Wesen und Dingen, das ist die einzige Wahrheit, die es zu berichten gibt", und die einzige allumfassende Religion.
Zurück in Jerusalem, teilt Jeschua den Seinen mit, sein bisheriges "Lehren und Wirken" beenden zu wollen, weil es sie "mehr in die Irre als näher zu Gott geführt" habe: "Geht heim und hört auf euer Herz, das euch leiten wird". Es bedürfe keines Mittlers zu Gott und keines Messias; er sei ein Mensch "wie alle anderen auch" und werde "mit Mirjam eine Familie gründen". Die Jünger sind verwirrt und aufgebracht, geben der "Schlange" Mirjam die Schuld am unbegreiflichen Sinneswandel ihres Meisters und bitten wenigstens um Aufschub des Abschieds bis zum Passahfest. Im Folgenden verknüpft der Roman die neuen Umstände mit den aus den Evangelien bekannten Ereignissen (Verrat, Gefangennahme, Prozess mit Verhören, Verurteilung Jeschuas), nur ans Kreuz geschlagen wird ein anderer: Jehuda (Judas), wobei Pontius Pilatus ein zwielichtiges Spiel mit Mirjam treibt, bis es dieser gelingt, ihren noch lebenden Jeschua in einem Wortgefecht freizukämpfen. Die beiden begeben sich außer Landes und werden in Babylon ansässig, bekommen einen Sohn, den sie Jehuda nennen, vier Jahre später stirbt Jeschua - "wie wir alle sterben werden". Die alte Mirjam erinnert sich, was über seinen Tod und seine Auferstehung irrig verbreitet wird. "Und einer, der ihn nicht einmal gekannt hat, behauptet, er sei für unsere Sünden gestorben! Gott habe sich in seinem Sohn für uns geopfert! Was für eine absurde Behauptung!"
Soweit, so gut, und auch wieder nicht. Denn am Ende weiß unsereiner nicht, was er glauben soll und worum es der Autorin eigentlich geht. Vor allem Erzählbeginn erklärt sie treuherzig: "Dieser Roman könnte die religiösen Gefühle von Lesern verletzen. Es ist ein Liebesroman um Maria Magdalena und Jesus. Die Handlung ist frei erfunden und erhebt keinen Anspruch auf historische oder theologische Wahrheit". Ob aber religiöse Gefühle verletzt werden, hängt von der Erwartungshaltung des Lesers ab, der indessen im Genre Unterhaltungsliteratur (denn dem entsprechen die Gestaltungsmittel des Romans) kaum Bibelexegese einfordern wird. Und dann ist es ja nicht verboten, mit Versatzstücken der Evangelien eine religiös überhöhte Liebesgeschichte zu zimmern, die das Defizit der Evangelien in dieser Hinsicht ausgleicht; dass dabei unversehens deren tatsächliche Botschaft, bzw. deren Zeugnis von der Botschaft Jesu fundamental in Frage gestellt, geradezu aus Jesu Mund widerrufen und durch einen Neuen Bund universaler Liebe ersetzt wird, geht allerdings über einen "Liebesroman", selbst mit diesem Paar, entschieden hinaus und beansprucht wohl doch eigene 'theologische' Wahrheit. Und schließlich ist bei so vielen Motivanleihen aus den Evangelien die Handlung zumindest partiell unfrei erfunden; und wem es nicht um 'historische Wahrheit' geht, der sollte auf historisierende Beigaben wie Landkarten von Palästina und Babylonien im 1. Jahrhundert n. Chr., die durchgehend jüdischen Namensformen statt der traditionell geläufigen, einen umfangreichen Anhang Sacherläuterungen (irrig "Register" genannt) und gleichsam quellenkundliche Ausführungen im "Prolog" und im Nachwort besser verzichten.
Die Buchausgabe ist übrigens als 2. Auflage bezeichnet, die Erstveröffentlichung erfolgte nach Auskunft des Impressums bereits 1995 (nur) im Internet.