Erkenne dich selbst!
Über eine Aufsatzsammlung zum Thema "Das Fremde"
Von Ira Lorf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Erkennen kultureller Muster - und zwar sowohl der eigenen als auch der fremden - gewinnt im Zeitalter des globalen Wirtschaftens zunehmend ökonomische Bedeutung. Dies demonstrieren zahlreiche Beiträge in deutschen Zeitungen über Studiengänge und Seminare zum Thema "Interkulturelle Kommunikation". Nur folgerichtig ist es, dass diese Artikel zum Teil auf den Wirtschaftsseiten platziert sind. "Der Diskurs über das Fremde hat Konjunktur", stellen auch Alexander Honold und Klaus R. Scherpe einleitend zu dem von ihnen herausgegebenen Band "Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen" fest. Sie postulieren einen Blickwinkel, der über die traditionellen Grenzen des Faches Germanistik hinaus kulturwissenschaftlich erweitert ist. Literarische Quellen seien in ihren diskursiven Zusammenhängen mit den zeitgenössischen politischen, wissenschaftlichen und institutionellen Entwicklungen zu untersuchen. Ziel sei es, die engen Verschränkungen zwischen kulturellem Wissen und ästhetischer Imagination sichtbar zu machen.
Diesem Anspruch werden die 15 Beiträge des Bandes, entstanden entweder direkt aus dem DFG-Projekt "Literatur- und Kulturgeschichte des Fremden 1880 bis 1918" am Institut für deutsche Literatur der Berliner Humboldt-Universität oder in engem Zusammenhang damit, durchaus gerecht - allerdings mit unterschiedlicher Stringenz.
Klaus Scherpe entwirft die Entwicklungslinie einer "Poetik der Beschreibung in ethnographischen Texten" vom Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zu Michel Leiris, Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz. Historische Zusammenhänge werden gleichwohl vernachlässigt - der Kolonialismus beispielsweise wird nur am Rande erwähnt. Dem ethnographischen Beschreibungsdiskurs ordnet Scherpe ausdrücklich sowohl ethnographische als auch literarische Texte zu, da sie die hermeneutische Ausgangsposition der teilnehmenden Beobachtung gemeinsam hätten. Betrachtet man die angeführten Beispiele, kann der Begriff der "teilnehmenden Beobachtung" hier allerdings nicht im Sinne der ethnologischen Methode gemeint sein. Sonst wäre es kaum möglich, neben Malinowskis "Argonauts of the Western Pacific" auch Flauberts "Salammbô" und Freuds "Totem und Tabu" diesem Diskurs zuzurechnen.
"Schlaglichter auf einige Schauplätze kolonialer Gewalt" wollen Anette und Peter Horn werfen. Die Verfasser widersprechen dem "Stereotyp des Kolonisierten als Opfer" und möchten die koloniale Besitzergreifung nicht als einseitige Täter-Opfer-Beziehung, sondern als kulturelle Interaktion verstanden wissen. Die Begründung, die unterworfenen Völker seien nicht passiv gewesen, sondern hätten sowohl an ihrer Unterdrückung mitgearbeitet als auch ihre Befreiung organisiert, überzeugt nicht - umso weniger, als die Verfasser nicht zwischen fiktionalen und historischen Quellen unterscheiden. Dass die Indianer vor ihrer Unterwerfung bzw. Ausrottung selbst nicht gewaltfrei lebten, relativiert die Taten der Kolonisatoren in keiner Weise. Und ein Opfer, das subversiv agiert oder sich wehrt, bleibt immer noch das Opfer. Anders formuliert: Die Tatsache, dass auch ein Opfer über Handlungsoptionen verfügt, setzt es zumindest nach gängigen Moralvorstellungen nicht dem Täter gleich. Wenn der von Anette und Peter Horn herbeizitierte Imre Kertész, der nach Auschwitz und Buchenwald verschleppt wurde, darauf besteht, nicht nur passives Opfer gewesen zu sein, um sich seine Menschenwürde und Selbstachtung zu bewahren, ist das verständlich. Wenn aber die Verfasser diese These übernehmen, wird es zumindest heikel und könnte als Rechtfertigung von Unterdrückung und Gewalt missverstanden werden. Das dünne Eis, auf dem sich Anette und Peter Horn mit ihrer Argumentation bewegen, trägt nicht.
Mit "Texturen und Farben" liefert Birgit Tautz eine Kurzfassung ihrer Dissertation (University of Minnesota 1998), die insbesondere am Beispiel von Hegels "Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte" zeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung Chinas und Afrikas im deutschen Idealismus ausfällt.
Die Beiträge von Martin Joch und Sibylle Benninghoff-Lühl befassen sich mit der Wissenschaftsgeschichte der Ethnographie. Joch erarbeitet eine erhellende Darstellung der vielfältigen und unübersichtlichen Konzeptionen der Kulturkreislehre, die sich in ihren theoretischen Annahmen sowohl untereinander als auch mit dem konkurrierenden Evolutionismus überschneiden. Dabei spart Joch auch die (kolonial-)politischen und ideologischen Hintergründe sowie die Zielsetzungen der einzelnen Richtungen nicht aus. Mit scharfem Blick auf die "Verhandlungen" der "Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnolgie und Urgeschichte" aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weist Benninghoff-Lühl nach, wie die Wissenschaftler versuchen, die Fülle des Materials zu strukturieren und eine Illusion von Ordnung zu schaffen.
Eric Ames beschreibt, auf welch unterschiedliche Weise "Carl Hagenbecks Inszenierung des Fremden", die sowohl Tier- als auch Völkerschauen umfasst, von verschiedenen Bevölkerungsgruppen rezipiert wird.
In die Kolonien selbst führen die Beiträge von Alexander Honold und Stephan Besser, die sich der geographischen und der medizinischen Erschließung des Landes widmen. Ausgehend von der Geographie Afrikas, die sich im Wissen der Europäer in kulturellen Mustern manifestiert, beschreibt Honold Stationen der kolonialen Aneignung des Kontinents: von Flussfahrten und Bergbesteigungen bis hin zum Eisenbahnbau. Grundlage für die koloniale Bemächtigung ist die "Arbeitsfiktion des leeren Raums", auf der auch Hans Grimms "Volk ohne Raum" (1926) basiert. Besser liest die Geschichte des Kolonialismus als Geschichte von Krankheitserfahrungen. Am Beispiel der Malaria demonstriert er, dass das Fremde in der Kolonialliteratur als Verursacher von Krankheit dargestellt wird, das ausgegrenzt werden muss, da es der Kultur der Kolonisatoren entgegensteht. Dies korrespondiert mit dem zeitgenössischen medizinischen Diskurs. In avantgardistischen Texten wie Robert Müllers "Tropen" (1915) hingegen bewirkt die Malaria eine Entgrenzungsbewegung, die symptomatisch für Schrecken und Faszination des Pathologischen in der ästhetischen Moderne ist.
Oliver Simons zeigt, wie der Berliner Chemiker (sic!) Erich Moritz von Hornbostel den 1877 von Edison erfundenen Phonographen im Dienste der Musikethnologie einsetzt. Deutlich wird, wie das technische Medium nicht nur die Wahrnehmung der fremden Musik durch die europäischen Wissenschaftler beeinflusst, sondern auch die 'exotische' Musik selbst verändert. Nana Badenberg gibt einen kenntnisreichen Überblick über die Rezeption der sogenannten "Negerkunst" in der bildenden Kunst und im ästhetischen Diskurs der Moderne in Frankreich und Deutschland. Im Zentrum stehen die Genese von Picassos "Demoiselles d'Avignon" und Carl Einsteins Arbeiten zur afrikanischen und ozeanischen Kunst. Überzeugend zeigt Badenberg die Entwicklung von Einsteins "Negerplastik" (1915), die die Ethnographica dekontextualisiert als rein ästhetische Objekte präsentiert, hin zu deren kunsthistorisch-ethnologischer Einordnung in der "Afrikanischen Plastik" (1921). Diese Entwicklung lässt sich auch an der Art der fotografischen Abbildung nachweisen, die Einstein wählt: So findet man den Frauenkopf aus Benin, der 1915 als individuelles Porträt dargeboten wird, 1921 in der Manier einer anthropometrischen Aufnahme präsentiert, wie sie die koloniale Ethnographie hervorbrachte.
In den folgenden vier Aufsätzen geht es in erster Linie um literarische Texte. Weijian Liu beschreibt am Beispiel Karl Mays, Alfons Paquets und Hermann Graf von Keyserlings, wie das Wissen über China, das insbesondere auf Grund der Institutionalisierung der Sinologie und durch Reiseerlebnisse wächst, zu einer "geistigen Entkolonialisierung" in der literarischen Darstellung Qingdaos (Tsingtaus) führt. Wie Waldemar Bonsels, Max Dauthendey und Keyserling ihre Reisen nach Indien literarisch verarbeiten, zeigt Rekha Kamath. Dass er zu dem Ergebnis kommt, Indien fungiere als der 'exotische' und spirituelle Gegenpol zum von Technik und Rationalität bestimmten Europa, verwundert nicht. Spiegel und Kontrastfolie ist der Orient auch für Kafka, allerdings in parodistischer Verfremdung, wie Rolf J. Goebels Analyse der ersten, wahrscheinlich 1904/07 entstandenen Fassung der "Beschreibung eines Kampfes" zeigt. Das ästhetische Mittel der ironischen Verkehrung von Eigenem und 'Exotischem' nutzt Robert Müller in seinem Roman "Tropen", der, wie Michaela Holdenried herausarbeitet, als Reise- und Exotismuskritik zu lesen ist. Holdenried führt Müllers Text als offenes, vielfältige Auslegungen erlaubendes Kunstwerk vor, das analog der Ästhetik des Films funktioniert.
Im letzten Beitrag des Bandes widmet sich Gernot Kamecke der Frage, was ein kreolischer Autor sei. Ausgehend von den historischen Bedingungen für die Entstehung der "Créolité" auf den Antillen, zeigt er am Beispiel zweier Romane des 1953 auf Martinique geborenen Patrick Chamoiseau, wie im Medium der Literatur die Sprachgewalt durch eine "Architektur kreolischer Identität" entschärft werden kann. Damit greift Kamecke sowohl zeitlich als auch räumlich weit über den Untersuchungsrahmen hinaus, den das Berliner Forschungsprojekt absteckt, nämlich die "Erfahrung, Darstellung und Deutung außereuropäischer Kulturkontakte im deutschsprachigen Kontext" in den Jahren von 1880 bis 1918.
Formal bleibt anzumerken, dass etwas mehr redaktionelle Sorgfalt dem Band, der als Beiheft zur Zeitschrift für Germanistik erschienen ist, gut getan hätte (so wird Stephan Besser in der Titelei als Stephan Blesser vorgestellt, grammatische Schnitzer sogar im Klappentext und zahlreiche Verschreibungen stören den guten Eindruck). Biographische Notizen zu den Autoren wären aufschlussreich gewesen, und ein Register hätte es erleichtert, Beziehungen - z. B. zwischen den verschiedenen Wissensbereichen - auf die Spur zu kommen.
Scherpes und Honolds Sammelband sagt - mit Ausnahme des letzten Beitrags - erwartungsgemäß wenig über "das Fremde" selbst, dafür umso mehr über dessen Wahrnehmung aus europäischer Sicht. Insbesondere diejenigen Beiträge, die nicht nur Zusammenhänge zwischen kulturellem Wissen und Texten aufzeigen, sondern denen es darüber hinaus gelingt, Denkstrukturen und kulturelle Muster zu beschreiben, liefern wertvolle Mosaiksteine für ein Bild davon, wie insbesondere die deutsche Kultur "funktioniert". Und ohne dieses "Schlüsselwissen" über die eigenen Muster ist kein freier Blick auf das "Fremde" möglich.
|
||