Narren in der Zwangsjacke
Referenzialität und Originalität
Von Christoph Schmitt-Maaß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seinem ersten Comic versteht es Jason Lutes, sich einerseits der Magie der Farben und ihrer immer aufwendigeren Reproduktionstechniken durch schlichtes Schwarzweiß zu entziehen. Gleichzeitig schafft er es, seinen Vorbildern eine gelungene Referenz zu erweisen: Hergé und Scott McCloud ("Understanding Comics").
In Rückblenden und Traumsequenzen werden wenige Tage im Leben von Ernie Weiss, Zauberer und Müßiggänger, aufgezeichnet. Der Selbstmord seines Bruders und Entfesselungskünstlers, die Trennung von seiner Freundin, seine Arbeitslosigkeit und das Zusammentreffen mit seinem senilen Mentor und einem Gelegenheitsdieb bilden den kontrastreichen Hintergrund für die Dekonstruktion des amerikanischen Traums. Dabei sind Lutes "Narren" Menschen, an denen sich die Umwelt reibt, die in kein Klischee passen und somit unbeherrschbar bleiben - Originale im wahren Sinne des Wortes.
Das Innenleben seiner Figuren schildert Lutes auf eindringliche Weise und legt dadurch Handlungsmotive und Interaktionsprozesse offen. Nach und nach beginnt der Leser zu verstehen, dass die "Narren" in einer Zwangsjacke stecken, die sie ebenso in den Tod treiben könnte wie den Bruder Ernies - Ertrinken scheint hier Voraussetzung für gesellschaftliche Konvention zu sein.
Dass der junge Zeichner dabei etwas tief in die Klamottenkiste der Emotionsdarstellung greift, stört gelegentlich und trübt den sonst so makellosen Eindruck.
Die herben Schwarzweiß-Zeichnungen, die keine Grautöne kennen, lassen ihren Protagonisten kaum Zwischenräume. In diesen Figurenlandschaften erstehen Typen aus dem "Film Noir" wieder auf. In statischen Bildern und maskenhaften Physiognomien meißelt der amerikanische Autor ein Bild, das die innere Erstarrung der Gesellschaft festhält. In fließenden Übergängen reihen sich die Bildkaskaden aneinander und entwickeln einen erzählerischen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Durch die kleingliedrige Anordnung der Sequenzen mit oft nur minimalen Änderungen entsteht ein detailliertes Zeitgefüge, das bewusst Längen in Kauf nimmt, um Stimmungen präsent werden zu lassen. Ab und an hätten einzelne Panels etwas mehr Platz verdient, etwa Aussichten oder detaillreiche Bilder. Die auf den ersten Blick sehr monotone Anordnung der Bildfolgen wird nur selten aufgebrochen - dann aber um so wirkungsvoller. Vor allem in den Traumsequenzen lebt Lutes sein zeichnerisches Potential aus und entfaltet seine ganze Palette von Möglichkeiten: rasche Perspektivenwechsel, über- und untergeordnete Blickwinkel, Handlungssprünge und Zeitverschiebungen bilden ein dichtes Netz von Handlungsbezügen.
Klare kraftvolle Linien verleihen den Zeichnungen Dynamik. Die schlichte Größe eines Hergé freilich erreicht Lutes nicht - auch wenn ein ironisches Zitat aus "Le trésor de Rackham le Rouge" nicht nur eine Referenz an den Altmeister, sondern ein Zitat aus dem hergéschen Figurenfundus darstellt. Ein fader Beigeschmack bleibt. Lutes' Comic ist zu akademisch, zu bewusst orientiert an den theoretischen Grundlagen eines Scott McCloud. Trotzdem: Man darf gespannt sein, was folgt.