Magisches Dreieck
Astrid Deuber-Mankowsky legt eine wegweisende Studie zum jungen Walter Benjamin vor
Von Geret Luhr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHerauszufinden, aus welchen verborgenen Quellen sich das Denken und Schreiben eines Autors speist, hat die Literaturwissenschaft stets gereizt. Das gilt für die positivistische Einflussforschung wie für deren methodisch versiertere Neuauflage, die Intertextualitätsforschung. Auch bei der vorliegenden Studie meint man es auf den ersten Blick mit einer Arbeit zu tun zu haben, die dieser in die Kritik geratenen Forschungstradition zuzurechnen ist. "Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen" - schon der Titel des Buches unterscheidet sich kaum von anderen, beliebigen Überschriften wie "Walter Benjamin und Bertolt Brecht", "Walter Benjamin und Ludwig Klages" oder "Benjamin und Karl Kraus". Und blättert man im Inhaltsverzeichnis herum, so setzt diese Tendenz sich fort, denn dort erfährt man, dass das Buch ausgiebig über Benjamin und Felix Noeggerath, Benjamin und Stefan George, Benjamin und Ludwig Strauß sowie Benjamin und Gustav Wynecken informieren wird.
Mit der herkömmlichen Literatur hat die Arbeit von Astrid Deuber-Mankowsky jedoch wenig zu tun. So bewegen sich die einzelnen Teile ihrer Studie auf höchstem philologischen und philosophischen Niveau. Kaum ist bisher über Benjamins Beziehung zu Stefan George wie über sein Verhältnis zu Gustav Wyneken so viel Erhellendes beigetragen worden. Kaum ist über die Bedeutung, die Felix Noeggeraths für Benjamin besaß, so angemessen und tiefgründig gesprochen worden.
Freilich kann bei Benjamin von "Einflüssen" im herkömmlichen Sinn, bei denen jeweils eine lineare und kontinuierliche Ausstrahlung der rezipierten Texte und Gedankengebäude zu unterstellen wäre, nicht die Rede sein. Bezeichnend ist für ihn vielmehr das Verfahren, die Gedankenfiguren anderer Autoren als Versatzstücke in eigene theoretische Konstellationen einzufügen und durch Umarbeitung nicht nur weitgehend unkenntlich, sondern auch auf eine neue Art produktiv zu machen. Spürt man diesen Konstellationen jedoch konsequent nach, droht der Autor Benjamin im komplexen Netzwerk der von ihm arrangierten Textbeziehungen zu verschwinden.
Insofern darf die Herausschälung der Koordinaten Gustav Wyneken - Stefan George - Hermann Cohen, die Astrid Deuber-Mankowsky vorgenommen hat, als ein wirklicher Glücksfall angesehen werden. Denn innerhalb des Dreiecks, welches diese drei Autoren um die Gedankenwelt des jungen Benjamin gezogen haben, wird die intellektuelle Physiognomie Benjamins in aller Deutlichkeit sichtbar. Ausgehend von der juvenilen Begeisterung für den von Benjamin als jüdisch begriffenen Idealismus des Reformpädagogen Gustav Wyneken, bis zur Transformation dieser Energien in magisch-ästhetische Elitebildung im Sinne Stefan Georges und schließlich zur kritischen Durchdringung und Läuterung dieser Gedankenmasse durch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Philosophie des Neukantianers Hermann Cohen.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei natürlich auf dem Werk Hermann Cohens bzw. der Bedeutung, die dieses Werks für die intellektuelle Entwicklung Walter Benjamins besitzt. In den verschiedenen Phasen seines Denkens hat Hermann Cohen versucht, innerhalb der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft die jüdische Religion als ein ursprüngliches und grundlegendes Datum zu rechtfertigen und zu restituieren. Dazu gehörte nicht nur der kritische Nachweis, dass die "deutsche" Philosophie Kants aus jüdischen Quellen inspiriert sei, sondern auch, dass nicht die christliche Vernunftreligion, sondern das Judentum eine fundamentale und universale Ethik bereitstelle. Die Verbindung von kritischer Philosophie mit einer mehr oder weniger "jüdisch" zu nennenden Ethik war nun auch das Problem, das den jungen Walter Benjamin in seiner Gedankenbildung vorangetrieben hat. Hier kann Deuber-Mankowsky deutlich zeigen, wie sehr Benjamin sich an Cohens Vorgaben abarbeitet, um schließlich vor dem Hintergrund seiner bisherigen intellektuellen Erfahrungen (Wynecken, George, Zionismus) zu neuen, esoterischen wie revolutionären Lösungen der Verbindung von Kritik, Theologie und Kunst zu kommen.
Die Einblicke in das Gedankensystem Benjamins reichen dabei sehr weit und lassen sich spekulativ in das spätere Werk fortsetzen. Nicht nur wer sich mit den frühen Walter Benjamin auseinandersetzen will, sollte demnach Deuber-Mankowskys Studie, die leider bisher nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhalten hat, zur Kenntnis nehmen. Die Lektüre ist ein Muss für jeden, der sich wirklich für Walter Benjamin interessiert.