Im Schweinsgalopp durchs Baltikum

Saufen, singen, leiden - die Polen in den Augen des Satirikers Marek Lawrynowicz

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilna, die Hauptstadt Litauens, hat ein bewegtes und bewegendes Jahrhundert hinter sich. Mal unter polnischer, mal unter russischer Herrschaft konnte Wilna in den dreißiger Jahren als kleine kapitalistische Metropole ihren materiellen Wohlstand in Unabhängigkeit genießen. Juden, Polen, Russen, Weißrussen und sogar ein paar Litauer lebten hier und man ließ es sich, wenn auch nur für kurze Zeit, gutgehen: "Aus den Bädern von Agrest und Strauss ergoß sich eine Menge von sauberen, wohlriechenden Bürgern, aus der Konditorei der Gebrüder Strall strömte der Duft von frischen Krapfen. An den Kinos hingen Fotos von Greta Garbo und Charlie Chaplin. Man trank Schampus. Man lachte." Nicht immer war alles zum Lachen, etwa als die Deutschen kamen und das jüdische Leben in Wilna ausrotteten.

Doch vor der deutschen Okkupation war das Leben noch in Ordnung. Damals trieb sich ein seltsamer, vierzehnjähriger Junge durch die Stadt und während seine Altersgenossen Äpfel klauen gingen, stand dieser oft stundenlang auf der Grünen Brücke und beobachtete die langsam dahinplätschernde Wilia. Der nachdenkliche Träumer ist Henryk, Sohn des Stammältesten Großvater Antoni und Vater des Ich-Erzählers in Marek Lawrynowiczs Roman "Der Teufel auf dem Kirchturm": "Eines Tages stand Vater vom Bett auf und wußte nicht mehr, wer er war. Er dachte darüber nach, bis er müde wurde. Auf dem Stuhl sitzend, schlief er ein und schlief sieben Monate lang." Henryk erwacht schließlich als "normaler Junge" und fällt nunmehr durch sein besonderes lyrisches Talent auf. Seine volksnahe, poetische Ader verschafft ihm einen Posten als "Refaränt", mit der Mission, den naiven litauischen Provinzbauern ein wenig polnische Kultur beizubringen. Sein älterer Bruder Onkel Mietek dagegen ist als einer der "nicht besonders zahlreichen Kommunisten" Wilnas das schwarze Schaf der Familie und bereitet Großvater Antoni großen Kummer, der als angesehener und pflichtbewußter Polizist die roten Umtriebe seines Sohnes nicht dulden kann. Und dann wäre da noch der gottesfürchtige Onkel Edward, der nach ein Paar Seiten lobpreisender Chorarbeit schon recht bald seiner Schwindsucht erliegen muss.

Diese höchst ungleichen Charaktere bilden nur die eine Hälfte vom Stammbaum des noch ungeborenen Ich-Erzählers, der die Geschichte seiner Familie so selbstverständlich und lakonisch zum besten gibt, als hätte er alles selbst erlebt. Der Großvater mütterlicherseits heißt Josef, ist Maschinist und hat eine bodenständige Lebensphilosophie: "Ein Mann solle im Leben drei Dinge tun: einen Sohn zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen." All das hat Großvater Josef bereits getan und kommt daher zu dem Schluss, "was immer er jetzt tun würde, es wäre nicht mehr so wichtig." Doch da geht es in Marek Lawrynowiczs ausufernder Familienchronik erst richtig los. Bis sich nämlich Großvater Antonis Sohn Henryk und Großvater Josefs Tochter Bronka finden, verlieben und endlich den vorlauten Ich-Erzähler in die Welt setzen, passiert viel, etwas zu viel sogar, denn für seine ungeheuren Einfälle, für seine scharenweise auf- und abtauchenden Figuren der vielverzweigten polnisch-litauischen Familiensaga nimmt sich der Autor zu wenig Zeit.

Marek Lawrynowicz versucht in eiligen Schritten fast ein ganzes Jahrhundert polnischer Geschichte zu durchschreiten und nimmt sich dafür gerade mal 200 Seiten Platz. Genau daran krankt das Buch. Lawrynowicz ist zu schnell unterwegs, er gönnt seinen phantasievollen Anekdoten und skurrilen Charakteren keinen Raum. Kaum entsteht ein wenig Atmosphäre, kaum hat man sich mit einer Figur angefreundet, kaum glaubt man der polnischen Lebensart ein wenig näher gekommen zu sein - folgt eine schon zotige Pointe und weiter gehts im Schweinsgalopp zur nächsten Station. Politische Ereignisse, revolutionäre Umwälzungen, das Chaos der beiden Weltkriege, die Vernichtung der litauischen Juden durch die Deutschen - das alles bildet einen nur schlecht ausgeleuchteten Hintergrund einer ansonsten durchaus bemerkenswerten Geschichte: denn gerade für die in osteuropäischer Kultur nicht besonders bewanderten Deutschen wären etwas ausgiebigere und genauere Exkurse zum Geschichtsverlauf - anstelle der knappen historischen Andeutungen für Eingeweihte - wünschenswert gewesen. So bleibt vieles unverstanden und das Bild der polnischen Kultur beschränkt sich auf das übliche Klischee vom sauf- und singfreudigen Bauernvölkchen. Der Wodka fließt in Strömen, die Tränen auch, es wird geküsst, getanzt und ständig gesungen: "Leide meine Seele, und du wirst erlöst. Wenn du nicht gelitten hast, dann ergeht's dir bös. Oj!"

Die polnische Lebensfreude scheint nie zu versiegen. Vielleicht erklärt ja Marek Lawrynowiczs eigentlicher Beruf seine ungestüme Pointenlust: er ist Satiriker und arbeitet für den Warschauer Rundfunk. Wenn er sich aber die nötige Zeit zum Erzählen nimmt, dann ist er richtig gut. Dies geschieht im zweifellos besten Kapitel des Buches, beim unerträglich langen Warten auf ein Verhör beim Sicherheitsdienst. Lawrynowicz beschreibt die quälende Unwissenheit, das stundenlange Ausharren auf menschenleeren Fluren, die Angst, sich trotz reinen Gewissens verdächtig zu verhalten und folgenschwere Fehler zu begehen. Das endlich folgende Verhör ist ein abstruses Frage- und Antwortspiel um sinnlose Verdächtigungen des misstrauischen kommunistischen Bürokratieapparats. In solchen Szenen erinnert Marek Lawrynowiczs Tragikkomik an seinen berühmten tschechischen Kollegen Bohumil Hrabal. Trotz der unnötigen Hektik und der daraus entstandenen Oberflächlichkeit ist "Der Teufel auf dem Kirchturm" ein schöner, gewitzter Schelmenroman, den man am besten ganz stilecht mit ein paar Gläschen Wodka des nachts am schummrig erleuchteten Küchentisch genießt. Oj!

Titelbild

Marek Lawrynowicz: Der Teufel auf dem Kirchturm. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
208 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3406465730

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