Der tibetanische Buddhismus
Hintergründe und dunkle Seiten des modernen Lamaismus
Von Lars Strombach
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer 14. Dalai Lama, Träger des Friedensnobelpreises 1989, mit seiner altmodischen Brille, seinem orangegelben Gewand, dem höflichen Lächeln, seiner bescheidenen Art und seiner überwältigenden Freundlichkeit ist beileibe kein Mann, vor dem man sich fürchten muss. Denkt man. Aber Victor und Victoria Trimondi zeichnen ein anderes Bild vom Idol friedliebender Menschen: Als Kind spielte er gerne mit Zinnsoldaten und Luftdruckwaffen; er ist heute noch stolz darauf, ein guter Schütze zu sein; er verschlang Bücher über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und war bei einer passenden Gelegenheit stolz darauf, mehr von U-Booten, Panzern und Geschützen zu verstehen als seine ungeliebten chinesischen Gesprächspartner. Und beim Besuch in der Normandie bestand der „Friedensfürst“ darauf, die Strände zu besichtigen, wo die Alliierten unter großen Opfern 1944 landeten.
Eine wissenschaftliche Arbeit besteht bekanntlich darin, alle für ein zu behandelndes Thema relevanten Quellen zusammen zu tragen. Die beiden Autoren Victor und Victoria Trimondi, die eigentlich Herbert und Mariana Röttgen heißen, befassten sich ausführlich, weitschweifig und wissenschaftlich mit dem Thema Buddhismus. Unterteilt ist das opulent ausgestattete und mit zahlreichen Illustrationen und einigen Fotos versehene Buch in zwei Teile mit den zunächst nebulösen, verwechselungs-gefährdeten Titeln: „Teil 1 – Ritual als Politik“ und „Teil 2 – Politik als Ritual“. Eigentlich besteht der erste Teil des Buches vor allem aus einem historischen Überblick und beleuchtet die buddhistische Mythologie, den aggressiven Mythos von Shambala und andere buddhistischen Kriegs- ideologien, aber auch die Verknüpfung von religiöser Lehre und Sexualität. Nach 323 Seiten esotherischer Religionsgeschichte befasst sich der zweite Teil mit handfesteren Dingen: Der politischen Intrige, der gar nicht so erstrebenswerten sozialen Wirklichkeit des Alten Tibet, dem Strafrecht und der Verknüpfungen des zeitgenössischen tibetanischen Buddhismus mit einigen Angelegenheiten, die heute gern verheimlicht werden: Auch Shoko Asahara, der Gründer der unseligen japanischen AUM-Sekte, die durch die verheerenden Giftgas-Anschläge auf die Pendler in den U-Bahnen von Tokio und Yokohama im März 1995 bekannt wurde, soll im Himalaya 1986/87 höchste Verwirklichung und Erleuchtung erlangt haben. Gemeinsam lächeln beide, Shoko Asahara und der 14. Dalai Lama, auf einem Foto entgegen. Glaubt man den Ausführungen des Buches, beauftragte der 14. Dalai Lama in den 80er Jahren Shoko Asahara, den wahren buddhistischen Glauben in Japan zu etablieren. Wie das endete, ist bekannt. Auch Hollywood ist, glaubt man dem Buch, fest in der Hand der Agenten Tibets. Filme wie „Kundun“ oder „Sieben Jahre in Tibet“, die beide die chinesischen Invasoren und Besatzer nicht gut wegkommen lassen, künden davon. Und überhaupt: War der Bergsteiger Heinrich Harrer, der Lehrer des jungen 14. Dalai Lama, nicht Mitglied der SS? Und hat sich nicht auch der Hobby-Esotheriker und SS-Führer Heinrich Himmler brennend für den Buddhismus interessiert? Hat nicht der amerikanische Geheimdienst CIA in den frühen 60ern die tibetischen Widerstandskämpfer trainiert und mit Waffen ausgestattet? Diese und weitere dunkle Seiten des tibetischen Buddhismus beleuchtet das Buch des Autorenpaares.
Aufräumen wollen sie mit der Uninformiertheit vieler westlich geprägter Menschen, die sich, wie die Grünenpolitiker Petra Kelly und Gerd Bastian, gutgläubig engagiert haben für das Volk der Tibeter und das ferne, unbekannte und von Chinesen seit 1959 besetzte Land auf dem Dach der Welt. Der Autor Herbert Röttgen gründete 1967 den Trikont-Verlag, der mit seinem Programm eng mit der 68er Bewegung verbunden war. Später folgte seine Wendung zur Spiritualität. Die Begegnung von Religion und Wissenschaft, Tradition und Moderne, Mythos und Geschichte stand von nun an im Mittelpunkt seiner Tätigkeit als Verleger und Autor. Seit 1994 arbeitet er mit seiner Frau im Rahmen eines Forschungsprojektes über „Die Bedeutung der traditionellen Religionen für die Wertebildung und Kreativität in einer Kultur der Zukunft“. Victoria Trimondi alias Mariana Röttgen, setzte sich nach einer künstlerischen Laufbahn und dem Studium der Geschichte und Kunstgeschichte seit 1986 intensiv mit den Themen Mythologie, Kultur- und Religionsgeschichte, Theologie und Tiefenpsychologie auseinander. Sie organisierte verschiedene interkulturelle und inter-religiöse Veranstaltungen und war konzeptionell für die „Inter Cultural Cooperation“ (ICC) tätig. 1994 übernahm sie mit ihrem Mann das genannte, vier Jahre währende Forschungsprojekt.
Die von dem Autorenpaar zitierte Originalliteratur besteht dem eigenen Bekunden nach ausschließlich aus Übersetzungen aus dem Sanskrit, dem Tibetischen oder Chinesischen in eine europäische Sprache sowie aus westlichen Medien, gängigen Zeitungen und Zeitschriften sowie dem Internet. „Mittlerweile sind soviele einschlägige Schriften übertragen, dass sie hinreichen, um eine kulturkritische Auseinandersetzung mit dem tibetischen Buddhismus auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen, ohne dass man auf Dokumente in der Ursprungssprache zurückgreifen müsste“. Zentral für die Studie sei das „Kalachkra-Tantra“ (zu deutsch: „Zeit-Tantra“. Aber was ist ein Tantra? Da hilft es nur, das Buch zu lesen).
Ist der Buddhismus tibetischer Prägung, wie ihn der 14. Dalai Lama repräsentiert, ein Hort unverfälschter Religiosität, größter Toleranz, tiefster Friedfertigkeit und Ausdruck eines Lebens im Einklang mit der Natur, mit sich selbst und den Mitmenschen, oder plant der Dalai Lama nach der erstrebten Befreiung seines Gebirgslandes von chinesischer Vorherrschaft die Errichtung einer isolierten absolutistischen Theokratie und einen Krieg gegen Andersgläubige, vor allem gegen Moslems? Die Wahrheit liegt, wie meistens im Leben, wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Jedenfalls stellt das Werk, das in weiten Teilen eine interessant zu lesende Art Kriegs-, Sitten-, Sex-, und Mythologiegeschichte des alten Tibets, zum anderen Teil aber auch als eine Art Biographie des 14. Dalai Lama gelesen werden kann, einen hervorragenden Beitrag zur Allgemeinbildung eines aufgeklärten Weltbürgers dar.