Die Kultur der Kulturwissenschaften

Studie zur kulturellen Relevanz der Literatur

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geoffrey Hartman gehört neben Paul de Man und J. Hillis Miller zu den wichtigen Vertretern der Yale Critics, die in den Vereinigten Staaten maßgeblich zur Durchsetzung dekonstruktiver Textlektüren beigetragen haben. In der bundesrepublikanischen Literaturwissenschaft ist er vergleichsweise selten rezipiert worden. Eine leichte Verbesserung hat erst die 1996 erschienene Übersetzung eines Ausschnittes aus Hartmans 1981 veröffentlichtem Buch "Saving the text" in dem von Aleida Assmann herausgegebenen Sammelband "Textlektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft" gebracht. Die Übertragung zeigt Hartman zwar programmatisch korrekt, aber - bedenkt man den Untertitel - nicht eben auf der Höhe der Zeit. Der Suhrkamp Verlag hat die Lücke nun mit der Übersetzung einer jüngeren Publikation zu schließen begonnen: "Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen an der Kultur" ist im Original 1997 unter dem Titel "The fateful questions of culture" erschienen. Der Verlag hat gut daran getan, den Titel zu ändern, nicht nur, weil damit die Kerngedanken Hartmans ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, um die herum er die Auseinandersetzung mit der Schicksalsfrage der Kultur führt, sondern auch, weil er sich mit dem Originaltitel innerhalb der amerikanischen Debatte um die Cultural Studies positioniert hat, einer Debatte, die nicht ohne weiteres auf die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen hierzulande zu übertragen ist.

Die Gesamtanlage des Buches folgt aus einer von Hartmans Lektüreprämissen, den Textkommentar gleichrangig neben den besprochenen Text zu stellen. Solche Kommentare sind nicht thetisch durchstrukturiert und gewinnen ihre Überzeugungskraft gelegentlich erst nach einer zweiten Lektüre. Im Zentrum stehen literarische Texte, die nach pointierten Analysen hinsichtlich der Frage nach dem Begriff der Kultur ausgewertet werden. Es handelt sich dabei nicht vorrangig um eine Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen in den Kulturwissenschaften, sondern um eine Reaktion darauf mit literarischen Texten. Hartman möchte den Hintergrund der Zuwendung zu kulturwissenschaftlichen Analysen historisch und psychologisch plausibel machen, wobei ihm die Gefahren, die die Debatte um kulturwissenschaftliche Fragestellungen mit sich bringt, wichtiger sind als die damit verbundenen Hoffnungen.

Im Zentrum der Kritik Hartmans an den Kulturwissenschaften steht die Feststellung, dass Kunst und Kultur in einem konflikthaften Verhältnis zueinander stehen. Eine Reduktion ästhetischer Phänomene auf eine ideologische Basis, wie sie wiederholt in den Cultural Studies vorgetragen wird, will er nicht akzeptieren. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht fragt er, ob kulturwissenschaftliche Analysen mit dem literarischen Überschuss an Imagination oder generell mit der imaginativen Vernunft der Literatur umgehen können. Diese Debatte ist in der bundesrepublikanischen Theorielandschaft von Karl Heinz Bohrer mit der Frage nach den Grenzen des Ästhetischen angestoßen worden. Wie Bohrer besteht Hartman auf der Eigenständigkeit des Ästhetischen. Zugrunde liegt bei Hartman die bereits in früheren Publikationen vorgetragene Ansicht von der ästhetischen Verwendungsweise von Wörtern. Hartman hat sich darin mit dem "Status von Worten innerhalb der Psyche oder der Kultur ihres Umfeldes" auseinander gesetzt und in Anlehnung an Freuds Theorie der Abwehr, Lacans Subjekttheorie, Derridas Theorie der Gabe sowie Blooms Ansichten zur Fehllektüre den Ort des Kritikers wie auch des Autors als zwei aufeinander verwiesene Bewegungen zwischen Sprache und Innerlichkeit beschrieben, die er in der Metapher der "Wort-Wunde" zusammenfasst. Sprache ist trügerisch, da sie als zeichenhafte einerseits Intuition oder reine Innerlichkeit zerstört, es andererseits aber ermöglicht, "jene Innerlichkeit zu beschreiben, Worte als Worte zu schätzen, sie als in und von uns lebend zu erfahren". Diese Wortkonzeption führt zu einer positiv nicht abschließbaren Lektüre. Ihre kulturelle Relevanz liegt in den daraus erst entstehenden Möglichkeiten, jeweils neu zu lesen. Wo die Künste die vertrauten Diskurse verlassen, berufen sie sich auf ein "Schweigen". Der Ursprung des "Schweigens" ist nicht theologisch gedacht, sondern psychoanalytisch: dem sprachlich verhafteten Wissen ist es als unbewusster Vorgang nicht unmittelbar zugänglich und deshalb nur von der Rede aus gesehen ein "beredtes Schweigen". Es ermöglicht innerhalb der Konzeption Hartmans die Erweiterung, Ergänzung, Kritik oder Transformation der diskursiven Praktiken (oder auch der ihnen zugrunde liegenden Ideologien). Kunstwerke beruhen demnach auf einem Wechselverhältnis vom "Schweigen" der Affekte im Text und literarischer (sprachlicher) Imagination (Gestaltgebung) dieses "Schweigens".

Hartman liegt nun viel daran, den Begriff "Kultur" so zu fassen, dass er den imaginativen Überschuss, den Literatur produziert, integrieren kann, und zugleich so angewandt wird, dass er demütigende, entwürdigende oder unmenschliche kulturelle Zustände nicht mit einschließen kann. Der Einwand ist plausibel, denn wenn die Kulturwissenschaften beginnen, selbst das Disparate unter dem Oberbegriff Kultur zu integrieren, von wo aus soll dann noch das Potential zur Kritik in die Arbeiten einfließen, die erst aus dem imaginativen Überschuss möglich wird. Hartman fragt danach, wie mit dem Teil umzugehen ist, der nicht ausdrücklich Teil der Kultur wird. Man kann dies an einer Redewendung wie "Kultur der Gefühle" gut veranschaulichen. Natürlich trägt die Literatur zur Sensibilisierung im Umgang mit Kultur und Natur bei. Es ist durchaus möglich, kognitive Patterns oder diskursive Strategien im Umgang mit den Gefühlen festzustellen. Aber schließt man das individuelle, mitunter anarchische Moment nicht aus, wenn man sie auf Patterns oder Diskurse festlegt? Moderne Literatur ist gerade durch die Kraft der Assoziation geprägt, ihre Emotionalität folgt nicht den Regeln der Vernunft, sondern (im besten Fall) einer Poetik des Mitgefühls oder der Überantwortung an ein Außen. Die Literatur kann nach Hartman so erst ihre Wirkungsmöglichkeiten entfalten und einer neuen Welt zum Durchbruch verhelfen, wie er am Beispiel von Wordsworth zeigt. Das Verhältnis zwischen Kunst und Kultur ist zu verworren und kompliziert, als dass man die Eigenständigkeit des Ästhetischen aufgeben könnte.

Hartman sieht eine Vielzahl von Gefahren, die aus einer nicht kritischen Abgrenzung von Kunst und Kultur folgen. Den Verlust des Inkommensurablen, das Freiräume erst ermöglicht, ein Begriffsbildungsverfahren, das soziale wie individuelle Differenzen unter einen Oberbegriff subsumiert und damit entgegen der Zielsetzung repressive Tendenzen entwickelt. Einen entscheidenden Grund für die Gefahr einer "fatalen Militanz" meint Hartman in einem der Moderne zugrunde liegenden Gefühl verfehlter Präsenz zu erkennen. Man kann hier die psychologische und historische Transformation der Präsenz/Absenz-Konzeption bei Derrida im Hintergrund durchaus mithören. Hartman schreibt in didaktischem Ton: "Die Rede ist von dem Gefühl, vom Leben ausgeschlossen zu sein. Nicht bloß vom gesellschaftlichen Leben [...], sondern von der (wohl stets mysthischen) Teilnahme am Leben selbst. Wir spüren, dass wir nicht an allem Teilhaben, das wir sehen. Dass wir vielleicht unsere Denkprozesse, kaum aber uns selbst begreifen. Dass wir die Empfindungen anderer auf mehr oder weniger abstrakte Weise nachfühlen, sie aber nicht in dem Sinne teilen, dass sie zu den unseren werden." Man überliest diese Passage in ihrer Relevanz für die Gesamtanlage des Buches leicht, wenn man nicht bedenkt, dass in diesem psychologischen Konflikt die Wurzeln für die historische Entfaltung einer "Identitätssuche" angesetzt werden, die, sofern sie die Unabschließbarkeit der Suche nicht berücksichtigt, die Tendenz hat, ins Ideologische und Inhumane (das wäre beispielsweise die mit aller Gewalt und allen Ausschließungstendenzen herbeigeführte Identität) abzurutschen.

Eine wichtige, sich daran anschließende Frage berührt Hartman mit dem Thema, welche Sprache kulturwissenschaftlichen Analysen angemessen ist. Eine solche neue Sprache findet er bei Derrida als ein neues Schreiben vor. Das Thema eines "neuen Schreibens" ist allerdings grundsätzlicher gefasst, denn selbst jene Ansätze, die dekonstruktive Lektüre nicht eben schätzen, sind gehalten, danach zu fragen, welche Sprache der Rede über Kultur angemessen ist. Schließlich geht es darum, den imaginativen Überschuss der Literatur innerhalb der Rede darüber abzubilden. Einem vergleichbaren Ansatz hat im deutschsprachigen Raum bereits Gerhard von Graevenitz vorgearbeitet, wenn er davon ausgeht, dass kulturwissenschaftliche Analysen auf den Ergebnissen der Dekonstruktion und deren Einsicht in die paradoxen Effekte von stringenten Grands Récits aufbauen sollten. Hartman plädiert für eine dem Diskurs angemessene Sprache mit "progressiven Begriffen", die ihrer Herkunft aus dem "Schweigen" verbunden bleiben.

Innerhalb der Debatte um die kulturwissenschaftlichen Erweiterungen der Literaturwissenschaft stört ihn insbesondere der Wegfall der Kategorie der Natur und eine damit verbundene ökologische Perspektive der Ästhetik. Hinzu tritt ein begriffliches Problem: Wenn alles Kultur ist oder potentiell sein kann, dann ist dieses Alles unter begrifflichen Aspekten betrachtet natürlich nichts, weil der Begriff über keine Definitionskraft mehr verfügt. Unter den Stichworten "Kultur" und "Kulturen" (gemeint ist die traditionelle Auffassung von Kultur und Multikulturalismus; die Übersetzung stiftet in diesem Fall mehr Verwirrung als Klarheit) skizziert er schließlich zwei Ansätze, denen er gerade aufgrund der Missachtung von Natur unterschiedliche paradoxe Effekte aufzeigt. Hartman gibt das historische Profil seiner Kritik in der Gegenüberstellung zweier Ansätze: einer lokal verwurzelten Ansicht über Kultur (Georgik) und einer moderneren Variante, der "Kultur der Einbeziehung". Die Tradition der Georgik baut auf der Idee der Versöhnung von Mensch und Natur auf. Ihr paradoxer Effekt ist es, zu einem "aggressiven Separatismus und Imperialismus" zu führen, deren Auswirkungen in der Moderne beispielsweise die Form einer Nationalkultur angenommen haben, deren radikalste Ausprägung im Rassenwahn des Nationalsozialismus zu finden ist. Andererseits stolpert auch eine "Kultur der Einbeziehung" in repressive Muster hinein, da die gegenwärtig praktizierten Formen der Einbeziehung auf monetärem und technischem Druck beruhen.

Aufschlussreich für die kritische Haltung Hartmans gegenüber den Cultural Studies ist die starke Betonung politischer, sozialer und moralischer Aspekte, mit der er auf die Diskussion der Ethik in den 90er Jahren zu reagieren scheint. Anknüpfungspunkte sind für ihn Levinás und die Frankfurter Schule Adornoscher Prägung (Habermas wird erwähnt, aber kaum detailliert einbezogen). Die Gefahren der "Kultur" beschreibt Hartman mit Adorno, allerdings nicht ohne ihn wegen seines Hochkulturbegriffs zu kritisieren.

Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma paradoxaler Effekte skizziert Hartman im fünften Kapitel des Buches. Er knüpft an Schillers ästhetischer Erziehung an. Das Motiv des "beschädigten Lebens" und der der ästhetischen Moderne unterstellte Wunsch nach "Ganzheit" legt schon begrifflich nahe, auf Schillers "ästhetische Erziehung" einzugehen, weil hier der Bruch zwischen naiver (ganzheitlicher) und sentimentalischer Haltung (der Weberschen Entzauberung der Welt) aufscheint. "Ästhetische Erziehung" soll die Freiheit auch von der Kultur aufnehmen können und eine Einbeziehung des Differenten leisten: "Kunst [...] ist unverzichtbar für ein gewisses Maß an Freiheit von inneren und äußeren Zwängen. Das ästhetische Empfinden ist nicht nur Voraussetzung für diese Freiheit, sondern bringt uns auch in den Kontakt mit der physischen Welt, einer Welt also, die wir nicht gemacht haben, die verlockend sinnlich ist, zugleich aber auch wissenschaftlichen Analysen offensteht". Die Zielrichtung dieser Argumentation liegt in einer Abrüstung von Identitätskonzepten hin zu einem kontemplativeren Leben, das das Denken der Dinge (genitivus subjectivus und objectivus) leisten soll. Hartman verarbeitet bei dieser Öffnung für die stumme Sprache der Natur u. a. Benjamins und Adornos Überlegungen zu Formen des Nichtidentischen.

Der Literatur kommen in diesem Zusammenhang zwei Aufgaben zu: einerseits kann sie Imaginationen von Ganzheit modulieren (immer vorausgesetzt, sie sucht nicht nach letzten Antworten, sondern akzeptiert die Offenheit der Lage - Hartman verwendet einen stark eingeschränkten Literaturbegriff), andererseits kann sie durch den imaginativen Überschuss, den sie produziert, die Suche voranbringen. Insbesondere die englischen Autoren der Romantik dienen Hartman als Modelle für eine gelungene Reaktion auf den Mangel an Sein.

Hartman zieht in dem Buch einige der wichtigen Forschungsschwerpunkte seines Lebens zusammen. Literaturtheorie und Literary Criticism, den genius loci, Autoren der englischen Romantik (insbesondere Wordsworth). Allein schon aus diesem Grund und der vielen in der Besprechung unerwähnt gebliebenen Namen und Stichworte hätte das Buch ein Personen- und Sachverzeichnis verdient. Man hätte das Buch von hier aus leichter als Vermittlung einiger der wichtigen Themen und Thesen wiederlesen können. Man kann es aber auch als eine Momentaufnahme begreifen: Es hält aus der Sicht der Literaturwissenschaft den Sprung der Geisteswissenschaften zu den Kulturwissenschaften über dem Abgrund zunehmender Spezialisierung und den Unterschieden zwischen den Kulturen fest. Der Euphorie des Sprungs begegnet Hartman mit der Aufforderung, in die historisch vorfindbaren Klüfte zu blicken. Dies geschieht nicht in destruktiver Absicht, sondern aus Prinzip: er fordert dazu auf, die Offenheit der Diskussion und die Vielheit der Positionen zu bedenken. Seine erste Prämisse kann man Levinás' Ethik entnehmen, deren Ansatz sich laut Levinás in einem einzigen Höflichkeitssatz zusammenfassen lässt: "Après vous." Nach Ihnen.

Titelbild

Geoffrey Hartman: Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen an der Kultur.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
297 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518411454

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