Arbeit am Begriff

Zwei Einführungen in die Philosophie

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was die im Primus Verlag erschienenen Einführungen zur Philosophie anderen Versuchen, philosophisches Grundwissen zu vermitteln, voraus haben, offenbart schon der Blick in die Inhaltsverzeichnisse. Lothar Kreimendahl, der Herausgeber der vorliegenden Bände, ist weniger an der umfassenden Darstellung und ,überblickenden' Synthese philosophischer Entwicklungen gelegen, als vielmehr daran, charakteristische Begriffe und Themen einzelner Denker in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Natürlich bedeutet die Exponierung herausragender Köpfe und noch dazu der Fokus auf eine für ihr Denken typische Begriffsbildung immer eine inhaltliche Beschränkung. Nichtsdestoweniger ermöglicht erst eine derartige Eingrenzung tiefere Einblicke in die philosophischen Lehren und Theoriegebäude. Demonstriert sei der von Kreimendahl und seinen Beiträgern gebahnte Zugang exemplarisch an Martins Carriers Aufsatz zur Naturphilosophie Isaak Newtons.

Bekanntlich nehmen Newtons "Principia Mathematica" (1687) eine Schlüsselstellung im Prozess der kognitiven Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften aus der Metaphysik ein. Einerseits wurzelt die klassische Mechanik noch tief in der spekulativen Naturphilosophie und bleibt so an deren Forderung nach einer metaphysischen Letztbegründung der Physik gebunden. Andererseits steht Newton inmitten eines Prozesses der sozialen Institutionalisierung der Naturwissenschaften, der im 17. Jahrhundert die Abkoppelung der Naturerkenntnis von normativen Reflexionen bewirkt. Auf die Erkenntnissphäre positiver Wissenschaft eingeschränkt, setzt sich ihre Entwicklungsdynamik als interne Reproduktion des Handelns und Maximierung der Erkenntnisse ohne Rücksicht auf deren sozialen Sinn fort. Dazu zählt auch, dass Newtons Physik den Anspruch auf Letztbegründung schließlich aufgibt und stattdessen eine mathematische Erklärung der Phänomene für hinreichend erachtet. Eine bahnbrechende Wirkungsgeschichte ist Newtons Gravitationsbegriff beschieden. Seit Voltaires populären "Éléments de philosophie de Newton" wird die Schwerkraft zur Erklärung von Entwicklungszusammenhängen in Geschichte, Anthropologie, Biologie usw. herangezogen.

Carriers Annäherung an Newton ist wesentlich anders gelagert. Auf eine weitmaschige Einbettung Newtons in den Kontext der Wissenschaftsgeschichte wird konsequent verzichtet. Zunächst legt der Verfasser dar, in welcher Weise Newton die Descartesche Annahme einer Relativität von Zeit und Raum erschüttert. Mit der Behauptung, dass absolute Bewegungen anhand der sie begleitenden Kräfte erkennbar und nicht auf relative Bewegungen zurückführbar sind, führt er ein empirisches Argument für die Existenz des absoluten Raumes an. Differenzierte Begriffsarbeit leistet Carrier auch in den folgenden Abschnitten. So zeigt die Erörterung der Begriffe Kraft und Bewegung Newton in einem Dilemma: Während er die Existenz eines aktiven, Bewegung vermittelnden Äthers nicht erklären kann, führt die Schließung dieser Lücke durch die Einsetzung Gottes als 'ersten Bewegers' unweigerlich zu Problemen hinsichtlich der so genannten Fernwirkung.

Auch in den anderen Artikeln der "Philosophen des 17. Jahrhunderts" wird der Leser nicht mit bezüglich ihres Zustandekommens uneinsehbaren Bildern von Francis Bacons Fortschrittsphilosophie, der Philosophie René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz' Substanzbegriff oder Thomas Hobbes' Staatslehre konfrontiert, sondern lernt etwas über die philosophische Wahrheitsfindung als solcher. Philosophie erschließt sich wesentlich über die - im Blick auf ihre Gültigkeit freilich unabschließbare - Interpretation ihrer Texte. Deshalb geben in den Primus-Einführungen neben den Auswahlbibliografien zahlreiche Fußnoten Aufschluss über Quellentexte und verarbeitete Sekundärliteratur. Besonders lobenswert: die Einführung des Herausgebers zur philosophiehistorischen Einordnung der Epoche und seine kritische Auseinandersetzung mit den gängigen Etikettierungen. Inwiefern ist es sinnvoll, das 17. Jahrhundert als das Jahrhundert des "Rationalismus" oder als das Jahrhundert der "Methode" zu bezeichnen? Und was hat es auf sich mit seiner viel beschworenen "Diskreditierung von Autoritäten"?

Mit "Philosophen des 18. Jahrhunderts" ist ebenfalls ein über weite Strecken praktikables Arbeitsbuch entstanden, mit dessen Hilfe man eigenständig weiterlesen kann. Nicht weniger wichtig: Wiederum stammen die Beiträge aus der Feder ausgewiesener Fachgelehrter. So dürfte sich auch bei der Lektüre dieses Bandes schnell herausstellen, dass die plakative Bezeichnung des 18. Jahrhunderts als Epoche der Aufklärung "zwar die allgemeine Tendenz [...] zutreffend wiedergibt, der Vielfalt der philosophischen Strömungen [...] jedoch nicht gerecht wird und eine homogene intellektuelle Bewegung insinuiert, die sich in dieser Geschlossenheit an den Texten nicht verifizieren lässt." Auch in diesem Fall steuert der Herausgeber den vereinzelnden Interpretationen einleitend entgegen. Umsichtig erscheint ferner die Differenzierung der Epoche in englische, französische und deutsche Aufklärung, wobei sich unsere philosophischen Vordenker wohl oder übel den Vorwurf einer geistesgeschichtlichen Verspätung gefallen lassen müssen.

Keine rechte Freude kommt allerdings bei der Lektüre von Peter-Eckards Knabes reichlich summarischem Voltaire-Artikel auf. Schon die Bibliografie beweist, dass der Autor in Sachen Voltaire-Interpretation kaum auf dem Laufenden ist und als deutsche Übersetzungen lediglich die literarisch-schöngeistigen Schriften anzugeben weiß. Ein weiteres Manko des Bandes: Wer etwas über den gesellschaftspolitisch so ungemein wirksamen mechanischen Materialismus der Aufklärung erfahren möchte, auf dessen Höhe so einflussreiche Werke wie La Mettries "L'homme machine" oder d'Holbachs "Système de la nature" erscheinen, muss sich die gewünschten Informationen einigermaßen mühsam aus den Artikeln zu Diderot und Condillac herausfiltern.

Für die erlittene Unbill entschädigt Karlfriedrich Herbs Beitrag zu Jean-Jacques Rousseau ("Ein Moderner mit antiker Seele"). Rousseau steht wohl am ehesten für aufklärerische Selbstkritik und ist darum ein Indiz für die oben skizzierte Sperrigkeit einzelner Tendenzen. Unverständlich ist nur, weshalb Herb in seiner Auswahl deutscher Übersetzungen die von Martin Fontius 1989 herausgegebenen "Kulturkritische[n] und politische[n] Schriften", die Erziehungsschrift "Emile" oder die oft als die ersten modernen ,Geständnisse' apostrophierten "Bekenntnisse" Rousseaus verschweigt. Wenig zu wünschen übrig lässt Klaus Düsings um die drei Kritiken Kants zentrierter Aufsatz - es sei denn, der Leser hätte gerne erfahren, dass die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) des Königsberger Philosophen nicht nur von der "rein mechanischen Entstehung des Weltbaus" handelt, sondern präziser beschrieben den Versuch darstellt, eine bestimmte Zusatzbedingung der Newtonschen Physik (das Eingreifen Gottes in den Weltlauf) zu eliminieren.

Diese Einführungen wollen dem Leser die Lektüre philosophischer Primärtexte also keineswegs ersparen, sondern unterbreiten wissenschaftlich fundierte Interpretationsangebote für bestimmte Begriffe und Denkmodelle. Der Rest geht auf des Lesers eigene Kappe. "Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" - der von Kant 1784 formulierte Wahlspruch der Aufklärung bewahrheitet sich auch in diesem Fall. Er ist sicherlich nicht die schlechteste Anleitung, die man dem angehenden Philosophen mit auf den Weg geben kann. Neben den genannten sind folgende Einführungen im Primus Verlag greifbar: "Philosophen des Altertums" (2 Bände, hrsg. von M. Erler und A. Graeser), "Philosophen des Mittelalters" (T. Kobusch), "Philosophen der Renaissance" (P. R. Blum), "Philosophen des 19. Jahrhunderts" (M. Fleischer/J. Hennigfeld) und "Philosophen des 20. Jahrhunderts" (M. Fleischer).

Titelbild

Lothar Kreimendahl (Hg.): Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung.
Primus Verlag, Darmstadt 1999.
269 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3896781367

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Titelbild

Lothar Kreimendahl (Hg.): Philosophen des 18. Jahrhunderts. Eine Einführung.
Primus Verlag, Darmstadt 2000.
253 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 389678157X

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