Ernst Jünger als Nietzsche-Rezipient

Die Nihilismusthese ist die Leitlinie seines Schaffens

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schriften Nietzsches haben den Schriftsteller Ernst Jünger früh und nachhaltig beeinflusst. Schon als Schüler beschäftigte er sich mit ihnen, insbesondere mit Nietzsches Erstlingswerk "Die Geburt der Tragödie". Auch die Forschung hat Nietzsches suggestive Wirkung auf Jünger oft hervorgehoben. Bereits 1930 rief der im Exil lebende Klaus Mann angesichts der kriegerischen Heraldik der bis dahin erschienenen Bücher von Jünger entsetzt aus: "Welches Unheil hat hier Nietzsche angerichtet." Während die meisten Jünger-Exegeten dabei vor allem die erste Schaffensphase dieses Schriftstellers vor Augen haben, vertritt der Germanist Reinhard Wilczek in seiner Wuppertaler Dissertation die These, dass Nietzsches Vision von der "Heraufkunft des europäischen Nihilismus" bis in die 50er Jahre hinein die Leitlinie von Jüngers Œuvre gewesen und dass dessen Rezeption der Schriften Nietzsches sogar in die poetische Struktur seiner Werke eingedrungen sei - deutlich zu erkennen an sprachlichen Manierismen und am gesamten sprachlichen Duktus von Jünger.

Der Autor, der sich sowohl bei Nietzsche als auch bei Jünger gut auskennt, vergleicht die einzelnen Werke der beiden miteinander und belegt seine Aussagen und Thesen häufig mit Zitaten, so dass selbst Leser, die nur wenig von Nietzsche und Jünger kennen oder gelesen haben, seinen Ausführungen mühelos folgen können.

Wilczek unterscheidet bei Jüngers Nietzsche-Rezeption drei Phasen: In der ersten Phase habe Jünger die vitalistischen Grundzüge von Nietzsches Philosophie noch weitgehend unreflektiert, spontan und passiv aufgenommen. Dabei zeichneten sich die Figuren seiner ersten Bücher, in Anlehnung an die Philosophie Nietzsches, nicht selten durch dekadente Eigenschaften aus, durch ungezügelten Lebensdrang, Willensstärke und eine fatalistische Grundhaltung. Unübersehbar seien bei vielen die Züge der späten Willensmetaphysik des Philosophen mit dem Hammer, unübersehbar sei auch der pathetische Stil der frühen Kriegstagebücher und der Essayistik. Im Soldaten des Ersten Weltkriegs habe Jünger dann den vom Philosophen herbeigesehnten Übermenschen gesehen, im Krieg ein großes Spiel, "in dem es um Sein oder Nichtsein geht", und im Schlachtfeld ein "Tanzplatz des Todes". Denn in den Trommelfeuern und Massenschlachten des Weltkrieges habe Jünger Nietzsches Prophezeiung von der "Heraufkunft des Nihilismus", gleichsam praktisch und hautnah, erfahren. Nietzsches Vision eines barbarischen Übermenschen, der das Zeitalter aus seiner Agonie erlöst, realisierte sich für Jünger in den Massenoffensiven und Materialschlachten des Ersten Weltkrieges mit vulkanischer Gewalt.

In der zweiten Rezeptionsphase wird Nietzsches Nihilismusvorwurf für Jünger zur Keimzelle einer eigenen visionären Metaphysik, in deren Zentrum der Mensch der Moderne steht, der auf Grund seiner technischen Verfügbarkeit und Überlegenheit als Vollender und Überwinder des Nihilismus auftritt. Vor allem in seinem Essay "Der Arbeiter" (1932) - er gilt als eines seiner umstrittensten Werke, als "extrem rechtes Buch" - erblickt Jünger im Arbeiter einen Übermenschen Nietzscheanischer Prägung mit einem Hang zum Abenteuer, zum gefährlichen Leben und einem stark entwickelten Machtinstinkt und Machtwillen, der als Einziger über die Mittel verfügt, die brüchig gewordenen Werte des Zeitalters zu beseitigen und das Fundament einer neuen Ordnung zu gründen. In der dritten Rezeptionsphase wandelt sich Ernst Jünger zum distanzierten Beobachter und Analytiker des Nihilismus. Davon zeugen seine Erzählung "Auf den Marmorklippen" (1939) und seine Tagebücher aus dieser Zeit. Jünger nimmt nun eine wachsende kritische Haltung gegenüber dem inhumanen Technizismus der Macht ein, der sich im Regime des Nationalsozialismus manifestiert. Jüngers publizistische Arbeiten aus dieser Ära seien zeitgeschichtliche Dokumente einer unheilvollen politisch-geistigen Verstrickung und eines Irrweges, schreibt Wilczek, den dann der Schriftsteller offensichtlich selber erkannt und aus dem er Konsequenzen gezogen habe wie die sprachliche Revision seiner Kriegstagebücher zu Beginn der 30er Jahre, aber auch Reflexionen über die eigene Schuld an den politischen Entwicklungen dieser Epoche in den späteren Werken zeigen. Doch selbst hier stoße man immer wieder auf das beinahe übermächtige Vorbild Nietzsches, wie etwa auf den Isolationismus, die Neigung zu Distanzierung und Selbststilisierung, den zentralen Merkmalen des Ecce homo. Jetzt benennt Jünger den Nihilismus als "tiefste Quelle des Übels", welche den Krieg mit verursacht habe. Doch nach wie vor ist und bleibt Nietzsche für Jünger, laut Wilczek, der große Entdecker und Vordenker des Nihilismus. Das Rezept, das er zu seiner Überwindung vorschreibt, werde allerdings von ihm nun nicht mehr angenommen.

Im "Waldgang" aus dem Jahr 1951 wird dann die Frage thematisiert, wie sich das Subjekt der Sogwirkung nihilistischer Kräfte in der Moderne entziehen könne. Hier gelangt der Mensch durch die Erkenntnis des Nichts hindurch zur Bestätigung einer höheren Wahrheit seines Seins, die ihn gegenüber den nihilistischen Mächten der Moderne unverwundbar macht. Der Mensch müsse seinen Glauben an die Unverlierbarkeit der metaphysischen Werte bewahren, meint Jünger, wenn er den Herausforderungen der nihilistischen Moderne widerstehen wolle.

Mit der Abhandlung "An der Zeitmauer" (1959) habe Jünger das Thema des Nihilismus endgültig abgeschlossen. Aber auch in den achtziger Jahren sei Nietzsche für Jünger ein wichtiger Gesprächspartner geblieben, obwohl jetzt der Einfluss anderer philosophischer und christlicher Gedanken auf Jünger hinzugekommen sei. Diese Einflüsse werden jedoch nicht näher untersucht, da Reinhard Wilczek Jünger in erster Linie als Nietzsche-Rezipienten wahrnimmt.

Jüngers antidemokratische Haltung, die zum Beispiel in einzelnen Passagen des "Abenteuerlichen Herzens" durchscheint, sowie der kriegsverherrlichende, fast barbarische Ton seiner Frühschriften gaben immer wieder Anlass, Jüngers Schriften zu kritisieren oder gar abzulehnen. All diese Einwände und Vorwürfe versucht Wilczek zu entkräften und rechnet gleichzeitig, durchweg in Fußnoten, mit anderen Jünger-Experten und Jünger-Interpreten scharf ab. Während viele Autoren sowohl Nietzsche als auch Jünger verdächtigen, geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein, kommt Wilczek zu der Schlussfolgerung, dass Jüngers Nietzsche-Rezeption eine eigenständige literarische Leistung gewesen sei, die keine Gemeinsamkeiten mit der staatlich gelenkten Nietzsche-Rezeption des Dritten Reiches aufweise. Vielmehr sei Jüngers poetische Adaption eine der großen literarischen Auseinandersetzungen mit Nietzsche in diesem Jahrhundert gewesen, die es uns ermöglicht habe, "einen Blick in jene Bereiche der geistigen Veränderungen und Konfigurationen zu werfen, deren Auswirkungen für unser Jahrhundert so weitreichend und folgenschwer gewesen sind. Es ist Jüngers Verdienst, diesen Raum erkundet zu haben."

Titelbild

Reinhard Wilczek: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption.
Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1999.
209 Seiten, 23,80 EUR.
ISBN-10: 3884763857

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