Eine Reise in die Vergangenheit

Ein Roman von Karl Otten tritt nach sechzig Jahren wieder ans Tageslicht

Von Anthony GrenvilleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anthony Grenville

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welchem Kenner des Expressionismus bleibt es unbekannt: das Porträt des jungen Dichters Karl Otten von Egon Schiele, mit flatternden Händen mitten im leidenschaftlichen Dialog erfasst? Mit berühmten Anthologien wie "Ahnung und Aufbruch" (Prosa des Expressionismus) und "Schrei und Bekenntnis" (Drama des Expressionismus) war Otten maßgeblich an der Wiederentdeckung des Expressionismus in den fünfziger Jahren beteiligt, nachdem der Nationalsozialismus versucht hatte, die kühnen literarischen Experimente der radikal-utopischen Bewegung völlig auszulöschen. Aber wie viele Expressionismus-Experten wissen, dass Otten ganze zweiundzwanzig Jahre lang, von 1936 bis 1958, in London gelebt und woran er im englischen Exil gearbeitet hat?

Es ist Richard Dove, Professor für deutsche Sprache an der Universität Greenwich, hoch anzurechnen, dass er Ottens Roman "Die Reise nach Deutschland", 1938 geschrieben, der Vergessenheit entrissen hat. Schon in seinem viel gelobten Buch über Ernst Toller, "He Was a German" ("Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland"), hat Dove Tollers Exiljahre in England fast als Erster gebührend gewürdigt. Unlängst ist sein Buch "Journey of No Return. Five German-speaking Literary Exiles in Britain, 1933-1945" (Libris: London 2000; vgl. die Besprechung von Andrea Hammel in dieser Ausgabe) erschienen, das eine der ersten Studien darstellt, die genügend Material zusammenbringen, um das deutschsprachige literarische Exil in Großbritannien als solches zu untersuchen, was allen früheren Untersuchungen von Einzelautoren unmöglich gewesen ist.

Karl Otten (1889 - 1963), gebürtiger Rheinländer, gehörte schon früh zu expressionistischen Kreisen und verbrachte fast den ganzen Ersten Weltkrieg, als Kriegsgegner von der ersten Stunde an, im Gefängnis und als Arbeitssoldat, vermochte aber trotzdem den Band "Thronerhebung des Herzens" 1917 in Berlin zu veröffentlichen; dem Band entnahm Kurt Pinthus die Gedichte Ottens, die in der legendären Anthologie "Menschheitsdämmerung" zu finden sind. Im März 1933 musste der links-demokratisch engagierte Autor aus Deutschland fliehen und gelangte mit seiner späteren Frau Ellen über Mallorca, wo er nach Ausbruch des Bürgerkrieges vorübergehend verhaftet wurde, 1936 nach London. Im ahnungslosen Vorkriegsengland vertiefte er sich in antifaschistische Tätigkeiten, schrieb Bücher, darunter die bemerkenswerte Analyse des Nationalsozialismus "A Combine of Aggression. Masses, Elite and Dictatorship in Germany" (1942), und arbeitete während des Krieges, obwohl halb erblindet, beim deutschen Dienst der BBC.

Im schicksalhaften Jahre 1938 hielt es Otten für die dringlichste Aufgabe der politischen Exilanten, die britische Öffentlichkeit über das wahre Wesen des nationalsozialistischen Deutschlands aufzuklären, um sowohl das britische Volk als auch die Regierung Chamberlain von der verhängnisvollen Vogel-Strauß-Politik Hitler gegenüber abzubringen. In dieser Absicht schrieb er den Roman "Die Reise nach Deutschland", der den Besuch eines jungen Durchschnittsengländers namens James Taylor im Deutschland des Jahres 1938 schildert. Taylor wohnt bei der Kölner Familie Eilershoven, wo er bald einsehen muss, dass die politische Kluft zwischen dem Nazismus und dessen Gegnern mitten durch diese Familie verläuft. Während der Historiker Professor Till Eilershoven auf den Werten des Humanismus und des demokratischen Liberalismus beharrt, ist seine junge Tochter Sybil zu einer glühenden Anhängerin der pseudo-revolutionären, pseudo-sozialistischen neuen Ordnung in Deutschland geworden, die ihr eine neue, bessere und vor allem zukunftsorientierte Welt zu versprechen scheint.

Zuerst wird auch James von dem Idealismus, der Dynamik und Zielbewusstheit der Nazis fast bezaubert. Bald aber erkennt er anhand seiner Erfahrungen in Deutschland, wie der Nationalsozialismus die systematische Militarisierung der ganzen Gesellschaft und besonders der Jugend vorantreibt und wie er letzten Endes auf Gewalt, Lügen und krasse Illegalität angewiesen ist: Deutschland, das schöne und menschenfreundliche Rheinland voran, wird in ein militärisches Lager verwandelt, um den vom Regime ersehnten Expansionskrieg zu entfachen, der die Deutschen zu den "Herren der Welt" machen soll. Durch die Augen des eher naiven jungen Engländers wird damit der britische Leser mit dem drohenden Militarismus des Dritten Reiches und mit der gefährlichen Fanatisierung der jüngeren Generation konfrontiert.

Indem James und Sybil sich ineinander verlieben, entdecken sie auch das wahre Gesicht des Nazismus. James wird verhaftet, bald aber wieder freigelassen. Als er nach England zurückkehrt, ist er fest davon überzeugt, dass in Deutschland ein Regime von rücksichtslosester Immoralität und Brutalität herrscht, das kaum darauf warten kann, ganz Europa in einen verheerenden Krieg zu stürzen. In einem einleitenden Kapitel, 1941 geschrieben, wird er als Bomberpilot der RAF über Köln abgeschossen. James weiß jetzt, dass er kämpfen muss, und er weiß auch wogegen; in dem Kampf gegen das Böse opfert er sein Leben auf.

Der Roman ist gut geschrieben und liest sich spannend, ist aber für den heutigen Leser eher als historisches Dokument wertvoll. Seine Warnung vor dem Nationalsozialismus war 1938, zur Zeit der ,Appeasement'-Politik der britischen Regierung, hochaktuell; aber der Ausbruch des Krieges im folgenden Jahr bedeutete, dass die Ereignisse der Weltgeschichte dem Roman vorausgeeilt waren, so dass Otten keinen Verlag mehr dafür interessieren konnte. So blieb "Die Reise nach Deutschland" mehr als sechzig Jahre lang unveröffentlicht, bis dieses wichtige Zeugnis des deutschsprachigen Exils endlich doch im Druck erscheinen konnte.

Titelbild

Karl Otten: Die Reise nach Deutschland.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Richard Dove.
Peter Lang Verlag, Bern 2000.
253 Seiten, 37,30 EUR.
ISBN-10: 390676379X

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