Vom Zweifel in den Zeiten des Big Mac

John R. Saul rechnet mit der lexigraphischen Wirklichkeit ab

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Lexika sind viele. Galt in früheren Zeiten ein Lexikon als fast heiliger Hort des Wissens, als modernes Orakel, so ist die Funktion und Bedeutung dieses Sammelbeckens der menschlichen Intelligenz in den letzten Jahren verblasst. In einer Zeit, in der sich unser Wissen regelmäßig in extrem kurzer Zeit verdoppelt, sich unaufhaltsam ausdifferenziert und von einem gedruckten Kompendium kaum noch in Schach, geschweige denn zwischen den Buchdeckeln gehalten werden kann, wird die Gattung Lexikon vor allem von Medien wie dem Internet sprunghaft überholt. Das Internet ist schneller, aktueller, leichter zugänglich und unverhältnismäßig umfangreicher, als es das dickste Lexikon je sein könnte. Im Internet kann jedermann aus der ehemals einseitigen Rezipienten-Rolle heraustreten und zum Sender werden - mit dem Resultat, dass die einstige alleinige Wahrheit des Lexikons zu multiplen Wahrheiten des Internets wird: Jeder kann sich seine eigene Wahrheit schaffen. Mit der Konsequenz, dass dem Nutzer unüberschaubar viele Wahrheiten angeboten werden, die kaum überprüfbar sind.

Der Kanadier John Ralston Saul hat mit seinem Zeitgeist-Lexikon "Von Erdbeeren, Wirtschaftsgipfeln und anderen Zumutungen des 21. Jahrhunderts" nun einen anderen Weg beschritten: Er vertraut auf die althergebrachte Form des Lexikons, gibt aber dennoch keine Antworten, bietet keine Wahrheiten an, sondern stellt im Gegenteil Fragen. Fragen an die uns angebotenen Wahrheiten der sich globalisierenden Welt. Und dies auf eine Art und Weise, die gleichsam amüsant ist wie nachdenklich macht - eines sei an dieser Stelle bereits vorweg genommen: bei John Ralston Saul kriegt jeder sein Fett weg. Sei es der "falsche Held" Ronald Reagan, der Saul zufolge "sein Leben lang nur Rollentexte" gesprochen hat, die manchmal aus alten Streifen seiner Hollywood-Zeit gekommen seien, "manchmal [jedoch] nur aus dem Kino in seinem Kopf"; der "Big Mac", der schlechterdings nicht als "food" bezeichnet werden könne, sondern höchstens als "promise of food", oder aber das "Croissant", das "halbmondförmige Symbol für das Paradies des Islam" - Saul lässt kein gutes Haar an uns mehr oder minder lieb gewordenen Fixpunkten des Daseins.

Die Themen des Kanadiers sind die scheinbar unumstößlichen und von den Politikern nur allzu oft als unaufhaltsame Entwicklungen beschworenen Tatsachen unserer Wirklichkeit; Stück für Stück enttarnt Saul die von den Konzernchefs und geistigen Eliten gleichsam als naturgesetzmäßige Notwendigkeit bezeichnete Macht der Wirtschaft und des Wissens. So entlarvt der Philosoph den Anti-Intellektualismus beispielsweise als bloße "Selbstbestätigung von Intellektuellen für Intellektuelle", die die Kulturkrise damit begründeten, dass das "dumme Volk" den "unvermeidlichen Tatsachen" nicht ins Auge sehen wolle. Saul hält dagegen, dass noch keine Kultur wegen ihrer Bevölkerung untergegangen sei; vielmehr, weil "die Machthaber ihre Arbeit nicht mehr tun". Saul ist überzeugt: "Ross Perot wurde von Harvard hervorgebracht, nicht von bäurischen Dummköpfen."

Saul ist am stärksten, wenn er ironisch, sarkastisch, in weiten Teilen gar zynisch wird und Versatzstücke unserer (westlichen) Gesellschaften durch extremste Zuspitzung aufdeckt. Beispiel gefällig? Buchstabe F wie Fabrik: "Es gibt immer wieder einige wohlmeinende Erwachsene, meistens Ausländer, die die Kinderarbeit in Fabriken abschaffen wollen. Das kommt daher, dass diese Erwachsenen nichts von Wettbewerb verstehen. Sie haben Angst vor der Globalisierung und sperren deshalb ihre eigenen Kinder in Schulen. Dabei wäre es viel lustiger, in einer Fabrik zu spielen."

Was Sauls Zeitgeist-Lexikon so lesenswert und gleichzeitig so unterhaltsam macht, ist seine gelungene Mischung aus essentiell philosophischen und ironisch-heiteren Abschnitten, reicht die Bandbreite des Buches doch von Artikeln zu Themen wie dem Anti-Intellektualismus oder der Bedeutung des Dekonstruktivismus bis hin zum Wert von Papp-Erdbeeren, der Bestrahlung toter Hühner zum Zwecke der besseren Haltbarkeit oder "Zinnie" - Saul zufolge die eindeutig hässlichste Gartenblume, die derzeit unter den Menschen weilt. Auch der Orgasmus als solcher ist Saul einen Abschnitt wert: Er sei weitaus "verbreiteter als Geburten oder Todesfälle" und aus diesem Grunde "ein ordentlicher Ersatz für religiöse Erfahrungen" für alle diejenigen, die nicht mehr an Gott glauben.

Bei aller beißender und oftmals brillanter Ironie verfällt Saul zeitweilig jedoch in arg stereotype Erklärungsmuster: Korporatismus versus Individualismus, Böse versus Gut. Keine Frage: der Korporatismus und mit ihm der Hang zu einer ethisch-moralisch degenerierenden Gesellschaft, die die ehrbare Leistung des Individuums verkennt und durch globales Profitkalkül und Honoratioren-Netzwerke ersetzt, ist ein großes Übel unserer Gegenwart. Diese Tendenz jedoch gleichsam pandemisch zu betrachten und gebetsmühlenartig zu wiederholen, schießt schlechterdings über das Ziel einer realistischen Problemanalyse hinaus.

Trotzdem: In seiner Gesamtheit ist John Ralston Saul ein überaus brillantes Kompendium zu den mehr oder minder wichtigen Fragen unserer Zeit gelungen - fast jeder einzelne Lexikoneintrag wäre es wert, hier gesondert erwähnt zu werden.

Das wichtigste Stichwort des gesamten Buches, seinen Kern und damit den Dreh- und Angelpunkt des Saulschen Kosmos - den Zweifel -, definiert der Kanadier indes nicht im lexikalischen Teil, sondern bereits ganz zu Beginn in einer hervorragenden Vorrede zu seinem Zeitgeist-Kompendium, in der er die Intention seines Lexikons beschreibt. Der Begriff des Lexikons, so Saul, lasse sich in zwei Arten untergliedern: Für die Ideologen und Rationalisten sei ein Lexikon der Ort der Wahrheit und verhindere "durch seine Definitionen andere, ebenso denkbare Bedeutungen". Im Gegensatz dazu stünde die Definition der Humanisten, die das Wörterbuch als eine nur für den Moment gültige Antwort verstünden, die ihrerseits wieder eine Reihe neuer Fragen nach sich ziehe und damit nicht monolithisch und unverrückbar, sondern vielmehr hinterfragbar sei. Sauls Präferenz indes ist klar erkennbar: Er wählt die letztere, humanistische Definition des Begriffes "Wörterbuch" und geht sokratisch an die Wirklichkeit heran. Saul ist von der Notwendigkeit einer neuen Sprache überzeugt; er will "alte Antworten beiseite räumen und neue Fragen stellen". Folgerichtig hat der Zweifel in Sauls Denken einen hohen Stellenwert: Er ist "die einzige Tätigkeit des Menschen, mit der er Machtanwendung unter Kontrolle halten kann."

Und in der Tat: nur der Zweifel, das Infragestellen von scheinbar unverrückbaren Tatsachen, wie sie von Politikern, Wissenschaftlern und den intellektuellen Eliten gleichsam als Status quo vorgegeben werden, erhält die Denkfähigkeit der Gesellschaft und ermöglicht so einen beständigen Wandel und die ununterbrochene Annäherung der Realität an die Utopie in unseren Köpfen - an die vage und dennoch in weiten Teilen zumindest der westlichen Welt kollektive Vorstellung einer besseren Zivilisation. Eine Gesellschaft, in der nicht gezweifelt wird, läuft Gefahr, apathisch, starr und fatalistisch zu werden - wozu die erzwungene wie freiwillige Abschaffung des Zweifels führen kann, ist gerade uns Deutschen vor kaum mehr als einem halben Jahrhundert nur allzu schmerzlich vor Augen geführt worden.

Auch und gerade aus diesem Grund ist John Ralston Sauls Plädoyer für den Zweifel so unvergleichlich wichtig. Denn wie formuliert es der Kanadier so treffend: "Der Zweifel ist die einzige Tätigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet." Auch und gerade in den Zeiten des Internets.

Titelbild

John R. Saul: Von Erdbeeren,Wirtschaftgipfeln und anderen Zumutungen des 21. Jahrhunderts.
Übersetzt aus dem Englischen von Fritz R. Glunk.
Campus Verlag, Frankfurt 2000.
300 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3593365405

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch