Von Knoblauchkämpfern, Schollenfüßlern und Kürbispiraten

Lukians phantastische Lügen in seinen "Wahren Geschichten"

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Star Trek", die wohl erfolgreichste Science-Fiction-Fernsehserie, zeigt in ihrer mittlerweile vierten Generation eine Raumschiffbesatzung, die nicht mehr auf wissenschaftlicher Entdeckungsreise die Galaxis durchquert. Vielmehr hat sich mit dem Übergang von der "Enterprise" zur "Voyager" die einstige Forschungsmission zu einer Irrfahrt gewandelt, deren Ziel es nur mehr ist, endlich nach Hause zurückzukehren. Davon ist man jedoch in jeder Episode gleich weit entfernt. Unablässig begegnet man skurrilen Gestalten und hat gar oft gefährliche Kämpfe zu bestehen.

Diese Erzählstruktur ist wenig unterschieden von der eines knapp zweitausend Jahre früher entstandenen Kulturprodukts, einem Text aus dem zweiten Jahrhundert: die "Wahren Geschichten" des syrischen Autors Lukian von Samosata. Allein die Kette aberwitziger Einfälle, der phantastische Rausch der Bilder, die überraschenden Wendungen ziehen den Leser auch heute noch in ihren Bann und fordern seiner Einbildungskraft unaufhörlich Neues ab. Besucht werden Inseln, auf denen Flüsse Wein statt Wasser führen oder Weinstöcke Milch liefern. Nicht nur Mond und Sonne bilden Stationen auf dem Weg des Ich-Erzählers und seiner 50-köpfigen Schiffsbesatzung, sondern auch der Bauch eines riesigen Walfisches, das Reich der Träume oder gar das Jenseits, das sich auf der Insel der Seligen befindet. Hier kann nicht nur munter mit der gesamten griechischen Philosophen- und Poetenzunft gezecht und disputiert, sondern auch schon mal der vorgesehene eigene Platz für das Leben nach dem Tode inspiziert werden. Unablässig begegnet die Mannschaft nie gesehenen Lebensformen: kriegerischen Pferdegeiern, gewandten Flohschützen, ungerechten Thunfischköpflern, Korkfüßlern, die auf dem Wasser schreiten können, oder verführerischen, aber leider auch kannibalischen Eselsschenklerinnen. Man erfährt, wie sich die reine Männergesellschaft auf dem Mond kleidet, ernährt und sogar fortpflanzt; man erhält Einblicke in die Strafen für die Verstorbenen, wie sie auf der Insel der Gottlosen vollzogen werden und man wird gewarnt vor den Folgen des Geschlechtsverkehrs mit den Rebfrauen, deren Küsse sogleich trunken machen. Und schließlich wohnt der Leser zahlreichen Schlachten bei, in denen hemmungslos gemetzelt und der deutlich unterlegene Gegner stets vollständig vernichtet wird. Dabei erscheinen die Angreifer eher als wild gewordenes Gemüse und alles mutet wie ein Aufstand aus Christbaumschmuck und Kinderspielzeug an. So dienen Rettiche als Wurfgeschosse, Spargelstangen als Speere und Fischgräten als Stichwaffen. Freilich sind die Dimensionen dieses Arsenals von Lukian ins Riesenhafte gesteigert, und davor erscheinen unsere Helden als Zwerggestalten. Ausgehöhlte Kürbisse oder halbierte Nussschalen dienen als Wasserfahrzeuge, wo nicht gleich auf ganzen Inseln herumgerudert wird.

All dies sind jedoch Lügen, wie uns der Dichter gleich zu Beginn seines Textes versichert, und diese Beteuerung sei die einzige Stelle, an der er die Wahrheit spräche. Seine zwei Bücher mit "Wahren Geschichten" sind allerdings mehr als nur eine herrliche Reihe phantastischer Einfälle. Wie uns der Autor nämlich auch wissen lässt, spielt jede Episode ironisch auf antike Geschichtsschreiber, Dichter oder Philosophen an. Mag davon für uns auch vieles aufgrund der lückenhaften Überlieferung verloren sein, so ist der parodistische Bezug auf Homers Odyssee beispielsweise durchweg erkennbar. Wer bewandert ist in der antiken Literatur, hat so doppelten Genuss an der Lektüre Lukians, der mit seiner Lügengeschichte vor allem darauf abzielt, die Wahrheitsbeteuerungen und Beglaubigungsstrategien der Geschichtsschreiber und Reiseerzähler zu entlarven und vorzuführen. Dass er sie souverän beherrscht, zeigt er auf jeder zweiten Seite, wenn auch an einem Material, das aufgrund seiner Groteskheit sich dem Geglaubtwerden immer schon widersetzt. Über weitere ironische Bezüge, z. B. zur utopischen oder erotischen Dichtung seiner Zeit informiert auch das Nachwort des Übersetzers Manuel Baumbach. Dort, wie auch in einem knappen Anmerkungsteil und den Erläuterungen der Namen, wird das Nötigste zum Verständnis des Textes mitgeliefert. Es wird so vom Schweizer Manesse Verlag, der dieses Werk in seiner indigo-Reihe "lebendiger Weltliteratur" präsentiert, eine einsprachige Leseausgabe vorgelegt, die "Lukians meistgelesenes Werk" einem interessierten Publikum leicht zugänglich macht. Lügendichtung und utopischer Roman scheinen hier ihren Anfang zu nehmen, und wer dieses Büchlein erstmals zur Hand nimmt, wird so auch unablässig erinnert an Motive, denen er anderswo schon begegnet ist, bei Rabelais, Cervantes, Swift, Bürger, Poe und Verne - und bei den Abenteuern von Captain Janeway und der Besatzung der "Voyager" im 24. Jahrhundert.

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Lukian: Wahre Geschichten.
Manesse Verlag, Zürich 2000.
94 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 371754005X

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