Von Sechsecken und Flickenteppichen

William H. Calvins "Die Sprache des Gehirns"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Metaphern und Analogieschlüsse, bemerkt der amerikanische Neurobiologe William H. Calvin, sind Instrumente des Denkens. Sie dienen dazu, ein Wissensgebiet im Sinn von Strukturen aus einem anderen Bereich zu verstehen. Eine immer einflussreicher werdende Analogie auf dem Gebiet der Soziobiologie, die von ihrem Erfinder freilich ganz wörtlich verstanden werden will, ist Richard Dawkins Theorie der "Meme". Darunter versteht der britische Neo-Darwinist die auf kognitiv-sozialer Ebene analogen Reproduktionseinheiten zu den Genen. Meme sind nichts anderes als all die Informationen, die sich (im Sinne dieser Analogie) von Gehirn zu Gehirn "fortpflanzen": durch Erziehung, Sprache, Kultur, Massenmedien. Unser gesamtes Wissen besteht aus Memen: Goethes "Faust" ist ebenso ein sich sozialevolutionär fortpflanzendes und vielleicht eines Tages aussterbendes Mem wie Freuds Psychoanalyse - oder Darwins Evolutionstheorie... Und wie schon im Fall der "egoistischen" Gene dreht Dawkins auch bei den Memen die gängige Zweck-Mittel-Sichtweise um: Die Gene und Meme sind nicht etwa für uns da, sondern wir sind für sie da, das heißt, wir sind nur die von den Genen und Memen gesteuerten Roboter, die Träger, die diesen Informationseinheiten mittels unaufhörlicher Reproduktion eine Art Unsterblichkeit verschaffen. In einem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch hat Susan Blackmore Dawkins Mem-Theorie zu einer biologisch fundierten Kulturtheorie ausgeweitet: "Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur und Geist".

In seinem Buch "Die Sprache des Gehirns" knüpft auch William H. Calvin an Dawkins Mem-Theorie an. Calvin geht aber noch einen Schritt weiter: Nicht nur von Gehirn zu Gehirn sollen elementare Informationseinheiten redupliziert werden, sondern auch und gerade innerhalb ein und desselben Gehirns. Calvin will zeigen, wie im Gehirn durch das Zusammenwirken darwinistischer Prozesse mentale Vorstellungen entstehen. Grundlegend ist dabei das Prinzip "von unten nach oben": Aus einem Chaos an Erinnerungsstücken, für sich nicht mehr als das Durcheinander eines Traumes, entsteht durch Evolution im Zeitraffer unser bewusstes Leben. Denn die Evolution, so Calvin, ist keineswegs nur auf biologische Prozesse wie das Entstehen und die Entwicklung von Lebewesen beschränkt. Vielmehr ist sie ein fundamentales Prinzip für die Organisation des Universums. Den Einwand, die evolutionären Prinzipien benötigten zur Veränderung und Neuadaptation von Bestehendem viel Zeit, hält er für falsch - und beweist dies am Immunsystem unseres Körpers. Dieses funktioniert nämlich ebenfalls darwinistisch und braucht nur wenige Tage, um gegen bislang unbekannte Eindringlinge neu entwickelte Antikörper hervorzubringen.

Und noch schneller, so Calvin, vollzieht sich die Evolution auf kognitiver Ebene im Gehirn. Nur Millisekunden bis allenfalls Minuten braucht es, um aus den elementaren Informationseinheiten Gedanken, Absichten, Sätze, Metaphern und Analogien entstehen zu lassen. Bei der von Calvin stolz präsentierten elementaren Informationseinheit handelt es sich um einen winzigen, nur etwa 0,5 Millimeter großen sechseckigen Neuronenverbund, der durch Klonen, durch Mutation und Selektion unaufhörlich immer komplexer werdende Mosaikstrukturen bildet. Verschiedene Sechseck-"Arten" kämpfen dabei im Gehirn wechselseitig um den limitierten Arbeitsraum bzw. "um die territoriale Vorherrschaft im assoziativen Kortex": "Ähnlich wie Zuckerkristalle auf dem Boden eines Glases mit übersättigtem Eistee wachsen diese zweidimensionalen Mosaiken und lösen sich wieder auf [...]. Wenn man mit dem richtigen bildgebenden Verfahren auf die Oberfläche des Kortex herabblickt, müsste sich ein Flickenteppich zeigen, dessen Muster sich ständig verändern." Nicht zuletzt die so oder so strukturierte Umwelt ist ausschlaggebend dafür, welche Muster sich in diesem Flickenteppich durchsetzen. Man sieht: Calvin will seine Rede von Sechsecken, Mosaiken und Flickenteppichen keineswegs nur metaphorisch verstanden wissen.

Anders als seine früheren Werke wie etwa "Die Symphonie des Denkens" ist Calvins neues Buch (in Amerika bereits 1996 erschienen) nicht für den interessierten Laien geschrieben, sondern richtet sich, wie Calvin in seinem Vorwort betont, an den wissenschaftlichen Fachkollegen, worauf der Hanser Verlag selbstredend nicht hinweist. Amüsant, sich vorzustellen, dass auch die Lektüre von Büchern nach dem "Survival of the Fittest"-Prinzip erfolgt. Denn die Lektüre "überleben", d. h. sie nicht vorzeitig abbrechen, werden in diesem Fall wohl vor allem Neurobiologen und Hirnforscher. Angesichts von Formulierungen wie "der Hauptnachteil eines degenerierten kortikalen Codes besteht darin, dass die meisten kortikortialen Projektionen reziprok sind", habe ich mich gehütet, Calvin in jede Untiefe des zerebralen Kortex zu folgen. Seine Ausführungen zum alles entscheidenden Sprung von elementaren neuronalen Strukturen zum Bewusstsein dürften daher in meinem neuronalen Netzwerk leider kein überlebensfähiges Sechseck-Mosaik bilden.

Nachdenklich gestimmt hat mich aber folgender Gedanke: Mit Recht stellt Calvin fest, dass die Stärke von Metaphern und Analogien zugleich auch ihre Schwäche ist. So wie sie dem Verständnis "auf die Sprünge" helfen, schränken sie es zugleich auch ein und machen es blind gegenüber anderen Aspekten des Untersuchungsgegenstandes. Auch wenn Calvins Sechseckmosaike im Gehirn nachweisbar sein sollten: es scheint überfällig, einmal zu untersuchen, welchen Anteil metaphorisches Denken an den neodarwinistischen Supertheorien eines Dawkins und eines Calvin hat und wie sich die Sicht auf den Untersuchungsgegenstand im Lauf der Wissenschaftsgeschichte veränderte durch das Zugrundelegen immer anderer Metaphern. Darauf, dass sich mit einer metapherngesättigten, farbenfrohen Forschersprache gerade auch in Zeiten einer mit Forschungsgeldern überhäuften Genforschung handfeste Politik betreiben lässt, hat jüngst Volker Lehmann eindringlich hingewiesen, in seinem Artikel "Genom sei der Name des Herrn" in der Süddeutschen Zeitung. Denken, Kreativität, Emotion mit der Metapher von nach Art des japanischen Go-Spiels miteinander um den limitierten Raum kämpfenden Sechseckmustern zu erklären - was lässt dieser Vergleich sehen, und - wichtiger - was nicht?

Titelbild

William H. Calvin: Die Sprache des Gehirns. Wie in unserem Bewusstsein Gedanken entstehen.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
280 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446198679

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