Risse im Zeitbewusstsein
Theoretisches und Detailanalysen zur Zeitwahrnehmung in der Moderne
Von Oliver van Essenberg
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Moderne" ist und bleibt einer der schillerndsten Begriffe der Sozial- und Geisteswissenschaften. Abgesehen vom unreflektierten Gebrauch des Wortes modern - man spricht wie selbstverständlich von einem modernen Gebäude, ohne sagen zu können, was damit gemeint ist - erscheint die Moderne stets als mehrschichtiges und mehrdeutiges Phänomen. Bei dem Versuch, die damit verbundenen Aspekte zu sichten und in eine Theorie zu überführen, ist es nicht ganz gleichgültig, von welcher Seite aus das Problem angegangen wird. Da es sich bei der Selbstbeschreibung um eine Temporalisierung handelt, liegt es nahe, die Zeitdimension besonders zu berücksichtigen.
Dies haben die Autoren des Sammelbandes "Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne" im Sinn. Die Herausgeberinnen Annette und Linda Simonis gehen in ihrer Einleitung davon aus, dass Zeiterfahrung und damit einhergehend ein erhöhtes Zeitbewusstsein prägende, wenn nicht gar spezifische Momente der Kultur der Moderne darstellen. Der theoretisch fruchtbare Ansatz wird allerdings kaum ausgebaut. Stattdessen findet der Leser eine Reihe von Einzelanalysen mit teils recht kursorisch wirkenden Beschreibungen.
Weitgehender Konsens besteht darin, dass im Übergang zur Moderne lineare und zyklische Modelle einem offenen Konzept weichen. Rudolf Stichweh macht deutlich, dass sich die Ungleichzeitigkeit evolutionärer Phänomene nicht auf den Unterschied von Tradition und Moderne reduzieren lässt. Eher ist nach seiner systemtheoretischen Betrachtungsweise in der Weltgesellschaft von regionalen Mini-Evolutionen auszugehen, die lose an das Gesellschaftssystem gekoppelt sind.
Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wäre es interessant, die Besonderheiten künstlerischer Zeitformen herauszuarbeiten, so etwa die Verwendung von Vor- und Rückblenden als spannungserzeugende Momente und Indizien einer offenen Zeitstruktur, in der die Gegenwart prinzipiell unsicher ist. Über solche Details geben die Einzelanalysen jedoch wenig Aufschluss. Mehr Konkretes einerseits und mehr theoretische Abstraktionen andererseits wären hier hilfreich.
Ansatzweise wird die Koevolution von Literatur und Wissenschaft in Annette Simonis' Betrachtungen zum Wandel temporaler Vorstellungsbilder in der modernen Literatur und im naturwissenschaftlichen Diskurs beleuchtet, obschon die Autorin mehr an Gemeinsamkeiten interessiert ist, hier: was Einsteins anschauliche Darstellung der Relativitätstheorie mit literarischen Metaphern des Expressionismus verbindet.
Einen schlüssigen Zusammenhang zwischen Diskursen über die Zeit und Zeithorizonte in der Literatur stellt Daniel Fulda anhand autobiographischer Schriften her. Durch die ausführliche Diskussion von Ruth Klügers Zeiterfahrung in "weiter leben" nimmt die Literaturgeschichte dabei vor dem Hintergrund der Nachkriegsthematik selbst die Form einer Erzählung an. Ein Gegenbeispiel zu Lyotards These vom Ende der Metaerzählungen.
Durch solche narrativen Konzepte werden Kontinuitäten betont und Diskontinuitäten heruntergespielt. Wie unangemessen das althergebrachte Modell sein kann, führt Nicolas Pethes überzeugend anhand der medialen Transformation von Zeit und Geschichte in Benjamins "Passagenprojekt" aus.
Die relativ junge Medientechnik der Photographie wird hier wie in anderen Beiträgen als ein Schwerpunkt des ,modernen' Zeitdiskurses erkannt, auf den sich vielerlei poetologische und ästhetische Reflexionen konzentrieren. Die Gegenwart kennzeichnet den Riss durch die Erinnerung, über den man schlechterdings nicht mehr hinwegsehen kann. Auch in jenen modernen, um die vorletzte Jahrhundertwende entstandenen Texten, in denen Dauer und Ewigkeit als Ordnungsmächte beschworen werden, ist die Gegenwart stets, gewissermaßen als doppelter Boden, präsent.
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