Dialektik von Innen und Außen

Dirk Oschmann über das literarische Werk von Siegfried Kracauer

Von Anne FleigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Fleig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während Siegfried Kracauer heute als Publizist und Filmkritiker durchaus eine bekannte Größe im Who is Who? der Weimarer Intellektuellen ist, konnte er sich als Schriftsteller kaum einen Namen machen. Entsprechend finden sich Hinweise auf seine Texte wohl in medienwissenschaftlichen Handbüchern, nicht aber in einschlägigen Literaturgeschichten. Kracauers im engeren Sinne literarisches Werk rückt nun erstmalig die 1999 mit dem Dissertationspreis der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgezeichnete Arbeit von Dirk Oschmann in den Mittelpunkt des Interesses. Untersucht werden in genealogischer Perspektive die Erzählungen "Das Fest im Frühling" (1907) und "Die Gnade" (1913), die sich beide unveröffentlicht im Kracauer-Nachlass in Marbach befinden, ferner die 1926 publizierte Erzählung "Der Gast" sowie die beiden Romane "Ginster" und "Georg". Dabei bildet die Interpretation von "Ginster", Kracauers erstem, 1928 bei Fischer erschienenem Roman, den Hauptteil der Arbeit.

Oschmann wendet sich mit seiner Studie gegen jene Arbeiten, die in Kracauer vornehmlich den gesellschaftskritischen Publizisten erkennen, und betont daher gegenüber der marxistischen Lesart seiner Schriften die intensive Nietzsche- und Kierkegaard-Lektüre Kracauers, deren Spuren er überzeugend markiert. So seien gerade die beiden frühen Texte von einem an Nietzsche gemahnenden "Willen zum Leben" durchdrungen; bis 1920 halte Kracauer an einem "höchst positiv aufgeladenen Lebensbegriff" fest, während seine intensive Beschäftigung mit Marx erst 1926 einsetze. In allen drei Erzählungen steht ein junger Mann samt seinem Verhältnis zu der ihm fremd bleibenden Welt im Mittelpunkt. Da "Erleben" für diese Texte ein zentraler Begriff sei, würde das Innere der jungen Protagonisten stark betont. Darüber hinaus könnten sie als Präfigurationen von Kracauers Roman "Ginster" verstanden werden.

Hier setzt Oschmanns leitende These an: Die Absage an das Konzept der Innerlichkeit sei sowohl das philosophische als auch das ästhetische Programm des Romans "Ginster". Diesen Text versteht Oschmann als "dichterische Summe von Kracauers ästhetischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und den literarischen Strömungen nach der Jahrhundertwende". Der Abkehr von der Innerlichkeit korrespondiere die Verabschiedung des vitalistischen Lebensbegriffes und unter dem Eindruck der Kierkegaard'schen Existenzphilosophie die Hinwendung zur äußeren Wirklichkeit. Gleichzeitig sei es dieser Begriff von Wirklichkeit, der eine Verbindung zu Kracauers Marx-Lektüre stifte.

Diese Wendung impliziert eine Ortsveränderung des Subjekts, die zu einer Änderung seiner biographischen Form führen muss, wenn dieser Ort sichtbar werden soll. Neben Nietzsche und Kierkegaard bringt Oschmann daher Georg Lukacs' "Theorie des Romans" für Kracauers Auseinandersetzung mit der Verfassung des modernen Individuums überzeugend in Anschlag. Kracauers Absage an bestimmte Formen biographischen Schreibens trotz gleichzeitiger autobiographischer Fundierung seiner eigenen Romane lasse sich dadurch erklären, dass "Ginster" das "herkömmliche Modell der Autobiographie nur noch als historisch überfällige und damit als zu zersetzende Vorlage" aufgreife. Im Kontext dieser These analysiert Oschmann sehr detailliert die Namensproblematik in "Ginster. Von ihm selbst geschrieben" als titelgebendes Ineinandergreifen von philosophischem und ästhetischem Programm. Die strukturelle Ununterscheidbarkeit von Anonymität und Pseudonymität könne als "Indiz für die systematische Unterminierung der autobiographischen Form" gewertet werden. Strukturbildend für den Roman sei die Doppelung von Innerlichkeit als Lebensform und der Innerlichkeit als Problem der Darstellung. Auch dem metaphorischen Gehalt des Pflanzennamens, der das Uneigentliche des Protagonisten noch unterstreicht, wird in diesem Zusammenhang erstmals die angemessene Aufmerksamkeit zuteil. Dabei ist Ginsters Inkognito eine Verhüllung, die entbirgt, mithin eine ästhetische Veräußerlichung, die, wie es Kracauer auch in seinem Essay "Kult der Zerstreuung" (1926) formuliert, die "Aufrichtigkeit" für sich hat. Entsprechend stellt Julia van C. in "Ginster" nachdenklich fest: "Sie sind ein merkwürdiger Mensch, [...] man ist gezwungen, aufrichtig Ihnen gegenüber zu sein." Der programmatisch gemeinte "Auszug aus der Innerlichkeit", der der Untersuchung ihren Titel leiht, ist darüber hinaus als der Weg zu verstehen, den Ginster im Roman zurücklegt: In den ersten zehn Kapiteln schreitet der Protagonist den Zirkel der Innerlichkeit als Subjektivität aus, den er im letzten Kapitel zu verlassen in der Lage ist. Im Zuge dieser Bewegung lässt sich "Ginster" übrigens auch als Bildungsroman verstehen. Gleichzeitig intendierte Kracauer, den Zerfall der modernen Welt darzustellen, eine Absicht, mit der die relativ episodische Abfolge der einzelnen Kapitel korrespondiere. In dieser Komposition trifft Ginster mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf seinen Onkel, der sich intensiv mit Geschichte beschäftigt. Dieser ist offensichtlich als Gegen-Modell zu Ginster konzipiert; dass er überdies Geschichte "mit dem Leimtopf" macht, wie es im Roman heißt, indem er Ausschnitte aus verschiedenen Quellensorten zusammenklebt, entlarvt seine Form der Versenkung als buchstäbliche Konstruktion von Wirklichkeit.

Diese Dialektik von Innen und Außen, die bei Oschmann auch als aufmerksam verfolgte Struktur der Doppelung erscheint, hat er dabei selbst im pointierten Titel der Untersuchung zum Ausdruck gebracht. Dieser beschreibt die Bewegung der Texte und betont gleichzeitig, dass diese Bewegung notwendig nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit ist, die sich niemals ganz, sondern stets nur als Auszug in Worte kleiden lässt. Dass dabei mancher ebenfalls interessante Aspekt, etwa die Abwesenheit des Kriegsgeschehens, nur gestreift wird und die Gegenüberstellung von "ästhetischen" und "ideologiekritischen" Ansätzen gelegentlich etwas schematisch ausfällt, ist angesichts der Fülle an neuen Einsichten, die diese Arbeit präsentiert, zu vernachlässigen. Überzogen wirkt bisweilen nur der Übereifer, mit dem der bisherigen Forschung Auslassungen und andere kleinere Mängel attestiert werden.

Die leitende These dieser mit Engagement verfassten Arbeit verhilft schließlich auch dem in der Forschung umstrittenen Schlusskapitel des Romans "Ginster" zu neuer Geltung. Überzeugend kann Oschmann zeigen, dass sich erst in Marseille der Auszug der Figuren aus der Innerlichkeit vollendet. Sämtliche "leitmotivischen Oppositionen" des Romans wie Innen und Außen, Zentrum und Rand, Tiefe und Oberfläche, Erinnern und Vergessen würden erst von hier aus verständlich. Der von Adorno indirekt aufgeworfenen Frage, ob nicht gerade diese Sichtbarmachung letztlich affirmativ und insofern auch ästhetisch zu schlicht sei, begegnet der Verfasser mit dem Argument, dass die im Text vollzogene Bewegung auch zu einer Veränderung in den ästhetischen Mitteln führen müsse. Dafür kann er schließlich auch den Roman "Georg" anführen, dessen Interpretation das letzte Kapitel dieser stringent durchgeführten Arbeit bildet.

Wirke "Georg" nämlich zunächst wie ein "Text ohne Geheimnis", der kaum ein Schlagwort der zeitgenössischen intellektuellen Diskurse auslasse, so sei es gerade die Beredsamkeit des Textes, die dem Auszug aus der Innerlichkeit eine "sprachphilosophische Wendung" gebe. Im Anschluss an das letzte Kapitel von "Ginster" sei es nur folgerichtig, die Konstruktion der Wirklichkeit als eine sprachlich vermittelte zur Anschauung zu bringen. Zwar gingen in beiden Romanen "Innerlichkeit als Lebensform und Innerlichkeit als Problem der Darstellung parallel", doch ziele Kracauers zweiter Roman auf die Entsymbolisierung der literarischen Rede selbst. Damit gehe ein Funktionswandel der Kunst einher, die ihre "Erkenntnispotentiale" auf die notwendige Erkundung der gesellschaftlichen Wirklichkeit richten müsse. Deren Transparenz indes verhindere jedes falsche Glücksversprechen. So lässt sich der Auszug aus der Innerlichkeit letztlich auch als ein Umzug ins Offene interpretieren.

Titelbild

Dirk Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
336 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3825309215

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