Lesefieber und Lebensbewältigung

Alexandra Ludewig kartiert Thomas Bernhards "Großvaterland"

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Heimatdichter Johannes Freumbichler, Thomas Bernhards Großvater, ist vielleicht die einzige Bezugsperson aus Kindertagen gewesen, die der verschrobene österreichische Grantler wirklich geliebt hat. Ihm verdankt er vermutlich das Lesefieber als Lebensbewältigung und Existenzbestimmung sowie die Initiation zum Bücherschreiber - dem womöglich bedeutendsten im Österreich des 20. Jahrhunderts.

In ihrer Dissertation "Großvaterland. Thomas Bernhards Schriftstellergenese dargestellt anhand seiner (Auto-)Biographie" untersucht Alexandra Ludewig den Einfluss Freumbichlers auf die Bernhard'sche Schriftstellergenese. Eine große Rolle spielt dabei die Bibliothek des großväterlichen Heimatdichters, die dem Enkelsohn offen stand. Vom Arbeitszimmer des alten Herrn ging ein ganz eigener Reiz aus, und bald fing der junge Bernhard selber an, sich eine Bibliothek zuzulegen und sich - ähnlich wie der Großvater - Notizen bei der Lektüre zu machen.

Bernhards Lektürekanon hat auch seine eigenen Arbeiten beeinflusst. Am Anfang seiner, wie Ludewig glaubt, identifikatorischen und kompensatorischen Leseleidenschaft standen Hamsuns "Hunger", Dostojewskis "Jüngling" und Goethes "Wahlverwandtschaften". Die Verfasserin arbeitet motivische Übereinstimmungen allgemeiner Natur heraus: "Sowohl Hamsuns Protagonist als auch der Erzähler in 'Der Atem' scheitern an der Gesellschaft, der sie sich nicht anpassen wollen. Beide empfinden ihre Unintegriertheit und ihr Leiden als höchsten Fortschritt, da sie durch ihre physische Disposition geistig sensibilisiert werden."

Freilich, wenn beide dasselbe tun oder empfinden, so ist es noch lange nicht dasselbe. Hier müsste aus dem Oberflächenbefund motivischer Ähnlichkeit ein Tiefenbefund der je besonderen, je unterschiedlichen Bedingungen des jeweiligen Literatursystems und der jeweiligen Autorentheorie erfolgen. Mit Allgemeinformeln, dass für beide Autoren Literatur ein "existenzbestimmender Faktor" sei, ist wenig bis nichts gesagt. So kann die Verfasserin zwar "Parallelen" zwischen den verschiedenen Œuvres aufzeigen, doch sind es Parallelen nur, die sich jedem synthetisierenden Verstand zeigen, ob der Befund nun stichhaltig ist oder nicht.

Ein anderes Problem dieser Arbeit ist, dass sie Befunde von Thomas Bernhard selbst, zum Beispiel über den Tod des Großvaters und die daraus resultierende Lizenz, jetzt selber schreiben zu dürfen (in "Die Kälte"), nur paraphrasiert, ohne dem einen nennenswerten Aspekt hinzuzufügen. Denn es ist fraglich, ob die Thematisierung des eigenen Schreibimpulses durch den Tod des ebenfalls schreibenden Großvaters wirklich "metapoetische Signale" aussendet; wahrscheinlicher ist doch, dass hier nur autopoietisch-reflexhaft durch Schreibkompensation auf eine Verlusterfahrung reagiert wird.

Die Qualität dieser Arbeit liegt nicht im Intertextuellen, ja nicht einmal im textanalytischen Befund. Sie liegt eher im Bereich der biographischen Hintergrundrecherche, die Ludewig an der Person des "realen Großvaters" und Heimatdichters Johannes Freumbichler demonstriert. Der Begriff der Heimat und der Heimatdichtung wird von Ludewig tiefenpsychologisch ausgelotet, was zwar textanalytisch unergiebig erscheint, dafür aber für die sozialen Koordinaten der Rezeption von Heimat- bzw. Anti-Heimat-Autoren wie Freumbichler und Bernhard von großer Bedeutung sein dürfte.

Ludewig interpretiert Bernhards Werk als Gegenentwurf zum Werk Freumbichlers: "Seine Weltsicht und sein Bild des Alpenlandes rezipierte, variierte und negierte sein Enkel Thomas Bernhard in endlosen Transformationen in seinem Schaffen, womit er sich in die Tradition der Heimatliteratur seines Landes eingeschrieben hat." Die Verfasserin spricht in diesem Zusammenhang von einer "Autorpoetik der Gegen-Sätze", die Bernhard seit "Frost" (1963) praktiziere. Der andere Gegenentwurf, der für den hier behandelten Werkkomplex der Pentalogie "Ein Kind", "Die Ursache", "Der Keller", "Der Atem" und "Die Kälte" relevant wäre, sei der "Kristallisationspunkt Österreich". Daher könne man Bernhard nicht "werkintern" verhandeln.

Der freilich im siebten Kapitel zu Rate gezogene Formalist Jurij M. Lotman bleibt in wesentlichen Aspekten seiner Grenzüberschreitungstheorie unberücksichtigt. Und was Ludewig ständig verwechselt, ist das 'reale' Österreich mit dem 'fiktiven' Österreich in Bernhards Œuvre, das einen eigenen semantischen Raum konstituiert, und zwar in jedem Werk neu. Daher bringt reflexhaft eingebrachtes Lexikonwissen über Österreichs Geschichte wenig bis nichts. So erschöpft sich die Arbeit in der Produktion von Ähnlichkeiten, die den Lebens-Werk-Zusammenhang nur behaupten können.

Titelbild

Alexandra Ludewig: Großvaterland. Thomas Bernhards Schriftstellergenese dargestellt anhand seiner (Auto-)Biographie.
Peter Lang Verlag, Bern 1999.
366 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3906762602

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