Wenn in Troja die Glocken läuten
Geoffrey Chaucer durchschaut die Konventionen seiner Zeit
Von Eva Leipprand
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Vom zweifachen Leid des Troilus, der ein Sohn des Königs Priamus von Troja war: wie die Geschicke seiner Liebe von Leid in Glück übergingen und schließlich wieder in Unglück, will ich erzählen, bevor ich von euch scheide." So beginnt Chaucers Ritterromanze vom edlen Ritter Troilus und seiner Liebe zur schönen Criseyde, von deren Augen man sagt, "in ihnen habe sich das Paradies gespiegelt". Pandarus, Criseydes Onkel und Freund des Troilus, tut alles, was in seinen Kräften steht, um die beiden zusammenzubringen (und wird auf diese Weise Pate des englischen Verbs to pander - verkuppeln). Auf dem Höhepunkt des Liebesglücks dreht sich das Rad der Fortuna. Criseyde muss dem Ruf ihres Vaters Kalchas ins Lager der Griechen folgen und tröstet sich dort, allen Treueschwüren zum Trotz, sehr rasch mit den Aufmerksamkeiten des Hellenenhelden Diomed. Dem untröstlichen Troilus bleibt nichts, als den Tod in der Schlacht zu suchen.
Die Geschichte vom Krieg der Griechen gegen Troja war zu Chaucers Zeiten allgemein bekannt und als Quelle abendländischer Tradition hoch geschätzt; man soll sogar erwogen haben, London in "Troynovant" umzutaufen. Chaucers Quelle ist allerdings nicht Homer, sondern (neben weiteren Mittelsmännern) Boccaccios Versroman "Filostrato" (ca. 1335). Der Dichter greift aber auch auf andere Texte zurück, fügt lange Passagen aus Boethius' "De consolatione philosophiae" ein, bedient sich frei bei antiken und mittelalterlichen Formen und Motiven. Aus den verschiedenen Elementen baut er ein wunderbar durchkomponiertes Kammerspiel, ganz auf die drei Hauptfiguren konzentriert, eine Tragödie in fünf Büchern mit dem Höhepunkt der Liebesnacht genau in der Mitte, eine Tragödie nach mittelalterlichem Verständnis, die heiter beginnt und deren trauriges Ende weniger der Schuld des Helden zuzuschreiben ist als dem erbarmungslosen Rad der Fortuna. Dabei sind Chaucers Figuren so vielschichtig, so genau in ihren Strategien und Reaktionen beobachtet, dass sie der höfischen Tradition des Minnespiels eine überraschende psychologische Tiefenperspektive geben.
Geoffrey Chaucer (1340?-1400) ist unbestritten der größte englische Dichter vor Shakespeare (der später aus dem Troja-Stoff sein eigenes bitter-zynisches Drama gemacht hat). Hundert Jahre vor der Erfindung des Buchdrucks, auf der Höhe des Mittelalters und diesem doch weit voraus, schreibt Chaucer in einer auch heute noch beeindruckenden geistigen Offenheit. Sein gelassener Blick auf die Buntheit der Welt findet den adäquaten Ausdruck in der Ironie. In "Troilus und Criseyde" wird die Tragik des Stoffes von einer Komik durchdrungen, die aus dem Zusammenprall von Konvention und Lebensrealität entspringt, am schönsten verkörpert im Gegensatzpaar Troilus - Pandarus. Troilus, schon beim ersten Blick auf Criseyde ganz nach Minnesitte mit Liebeskrankheit geschlagen, zieht sich, seufzend und über den Tod philosophierend ins Bett zurück (wenn er nicht gerade vor Trojas Toren ein paar Griechen erschlägt). Pandarus dagegen argumentiert bürgerlich-handfest, am liebsten mit Sprichwörtern und Lebensweisheiten. Ihm geht das Gejammer auf die Nerven: "He! Bist du jetzt schon ganz weggetreten?" Der sittsam die Spröde spielenden Criseyde fährt er über den Mund: "Hören Sie endlich auf mit Ihrem prüden Gehabe und diesem ganzen Zirkus!" Während Troilus verzückt an Criseydes Bett kniend in Ohnmacht fällt, gibt ihm der lebenskluge Pandarus einen kräftigen Schubs hinein in die Arme seiner Süßen.
Chaucer durchschaut und parodiert die Konventionen seiner Zeit, aber mit so viel Witz und Sympathie für seine Figuren, dass nichts weggenommen wird von der "großen Gnadenfülle der Liebe", die er das endlich vereinte Paar erleben lässt. "Und wie das süße Geißblatt sich mit mancher Windung um den Baumstamm rankt und schlingt, so schlangen sie sich einer um den andern."
Bewundernswert souverän setzt Chaucer seinen Erzähler ein. Der reagiert spontan und mitfühlend auf die Ereignisse und kommuniziert geschickt und keineswegs belehrend mit dem Leser oder Hörer - "das wissen wir doch alle in dieser Runde!" Er lädt ihn zum Meinungsaustausch über die Liebe ein, interaktiv sozusagen: "eurem Urteil stelle ich es anheim, ob ihr etwas hinzufügen oder streichen wollt an meinen Formulierungen - seid so gut. Doch jetzt zurück zu unserem Thema!" Der Erzähler schafft eine ebenso tolerante wie ironische Distanz zum Geschehen, so dass es sich in einer Atmosphäre geistreicher Urbanität entfalten kann, mit weltoffenem Verständnis für alles Menschliche. Nicht einmal über Criseydes Untreue bricht der Erzähler den Stab. Sie hat sich halt, während Troilus in sturer Treue "sein Leiden kultiviert" und sich zu Tode seufzt, fürs Praktische, fürs Überleben entschieden. So ist dieses Epos komisch und ergreifend zugleich, ein ganz bodenständiges Hohelied der Liebe.
Chaucer inszeniert sein Spiel wie ein Gemälde der Zeit - höfisches Ritterspiel zwischen antiken Säulenbögen; durchs Fenster erblickt man, während hoch oben der klassische Phöbus seine Himmelsbahn zieht, eine Landschaft in warmem Licht, den mit immer wieder neuer Freude beschriebenen englischen Frühling - "als die Wiesen sich in frisches Grün kleideten und Blümlein, weiß und rot, ihren süßen Duft verhauchten". Anachronismen sind für Chaucer kein Problem. Lustvoll wirft er - ob mit oder ohne Absicht - Zeiten und Kulturen durcheinander, lässt im antiken Troja Glocken läuten und ruft die heidnischen Götter mit christlichen Litaneien an. So kann man ohne weiteres zu Amor flehen: "Herr, erbarme dich!" Die Brüche sind nicht nur äußerst amüsant; sie zeigen auch, wie unabhängig von Zeit und Raum, wie allgemein gültig Chaucers Geschichte ist.
"Mach dich denn auf, kleines Buch, meine kleine Tragödie!" Vor mehr als sechshundert Jahren hat Chaucer sein Werk liebevoll auf den Weg geschickt. Nun ist es bei uns angekommen. Zu Chaucers 600. Todestag haben Wolfgang Obst und Florian Schleburg (beide lehren Sprachwissenschaft in Augsburg resp. Regensburg) die erste vollständige deutsche Übersetzung von "Troilus und Criseyde" herausgebracht. Um es gleich zu sagen: vergnüglicher kann mittelenglische Lektüre dem heutigen Leser wohl kaum nahe gebracht werden. Und das Vergnügen entsteht in stillem Einverständnis mit Chaucer selbst.
"Ihr wisst auch, daß sich die Gestalt der Sprache im Lauf der Jahrhunderte ändert. Manches Wort, das früher in Ehren stand, kommt uns heute seltsam vor, aber damals hat man wirklich so gesprochen, und man fuhr damit in der Liebe genauso gut wie die Menschen heutzutage." Schon Chaucers Erzähler kennt die Probleme des Übersetzens. Er weiß: jede Sprache enthält die Kultur ihrer Zeit, ist Ausdruck der jeweiligen Mentalität. Sechshundert Jahre sind eine enorme Distanz. Wolfgang Obst und Florian Schleburg haben bewusst einen sehr heutigen Ton gewählt, um die Kluft zwischen den Mentalitäten zu überbrücken. Aus "love" haben sie "Beziehung" gemacht, aus "care" ein "Problem". "Noch nie hab ich mich so gut gefühlt!" freut sich Troilus, der anfangs noch, als er sich über die Liebeskranken lustig macht, ein "Klugscheißer" genannt wird. "Nis but a fantasye" wird "reines Wunschdenken". Ein Vergleich mit der ersten Chaucer-Übersetzung von Ruth Schirmer (eine zweisprachige Auswahl 1974 bei Reclam) zeigt das Prinzip: bei Schirmer ist Criseyde "anmutig", bei Obst/Schleburg ist sie "attraktiv" und nicht "unvergleichlich" (Schirmer), sondern "konkurrenzlos" schön. Die Übersetzer geben Chaucers Charakteren einen Hauch heutigen Lebensgefühls, rufen aber mit einem "Wahrlich!" oder "Sei unverzagt!" oder auch dem höfischen "Sie" immer wieder den historischen Rahmen in Erinnerung. Die Reibung durch die Inkongruenz der Zeit- und Stilebenen ist eine ständige Quelle der Komik. Mit den gezielt gesetzten Anachronismen wandeln die Übersetzer in Chaucers Spuren und addieren zu seinem Kulturengemisch noch die heutige Perspektive.
Wolfgang Obst und Florian Schleburg sind ausgewiesene Chaucer-Kenner. Sie haben zu Chaucers Mittelenglisch ein Lehrbuch verfasst und begleiten auch die vorliegende Übersetzung sachkundig mit Anmerkungen und einem aufschlussreichen Nachwort. Bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit funkelt und blitzt aber der Spaß an der Arbeit zwischen den Zeilen. Zu schön ist es, wenn die Übertragung von Chaucers bildkräftigen Sprachwendungen und Lebensweisheiten gelingt. So hilft der trauernden Criseyde der Zuspruch ihrer Freundinnen "genauso viel, wie wenn man einen, der Kopfweh hat, am Fuß kratzt." Und Pandarus rät ihr: "Verwenden Sie die Zeit aufs Heilen, nicht aufs Heulen!" An einigen Stellen wird es zuviel des Guten. Wenn "worthy knightes" zu "flotten Rittern" werden, ist die sonst so schön gehaltene Balance gefährdet. Troilus' flehender Brief an Criseyde, im Original rührend gestelzt, wird in der Übersetzung zur Karikatur verkünstelt.
"Ye, hasel-wode!" - "Pustekuchen!" Chaucer wird den beiden fröhlichen Wissenschaftlern verzeihen, dass ihnen gelegentlich der Gaul durchgegangen ist, so wie er ihnen auch verzeihen wird, dass sie den "rhyme royal", seine schönen Troilusstrophen, in Prosa aufgelöst haben. Niemals ließe sich das komplizierte Reimschema in ein vernünftiges Deutsch übertragen, und schon gar nicht in einen Text von solcher Frische. Chaucer hätte bestimmt nichts dagegen gehabt. Wolfgang Obst und Florian Schleburg bestätigen schließlich, indem sie sie an unserer Sprache testen, aufs Schönste die Zeitlosigkeit seiner Verse.