Topographien der Naturgeschichte

Vilém Flussers "Vogelflüge" über die Barrieren von Kultur und Natur

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Zwiegespräch mit der zitternden Grenzlinie von Natur und Kultur führt Vilém Flusser in seinen nun erstmals postum veröffentlichten Essays: "Vogelflüge". Feinsinnig, mit manchmal surrealem Witz und der irritierenden Ehrlichkeit eines Gelehrten lädt er ein zu Spaziergängen in Naturgeschichte und Kulturlandschaften.

Flusser liebt die Natur wie ein Pfadfinder und ist doch ganz über den Verdacht erhaben, Naturerlebnisse zu verkitschen. Er erzählt im Gespräch über Gras vom Haareschneiden, erkennt in Kühen utopische Maschinen, kennt keine andere Natur als eine metaphorische oder bereits kultivierte.

Der Flug der Vögel ist auch in Flussers Essays eine Freiheitsmetapher, die Eroberung der dritten Dimension gebunden an das Versprechen eines erweiterten Bewegungsraums in soziokulturellen Sphären, während die Vögel selbst als längst überholte Flugmaschinen erscheinen. Besser fliegt der Mensch. Er ist der Freiheit näher.

Flussers "Lesart" der Natur ist ganz von der Brille eines Kulturbürgers am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. Aber das macht seine Betrachtungen nicht weniger schön. Es nimmt ihnen nur lediglich den lyrischen Anachronismus. Vom Mythos der unmittelbaren Naturerfahrung ist Flusser weit genug entfernt. Er hält nicht ohne Pathos die Idee der zweiten Natur dagegen: Kultur als potentieller Ort der Freiheit. Man könnte vielleicht sagen: Flusser ist ein Romantiker der zweiten Natur. Er dankt ihr mit seinen Essays für wunderbare und manchmal sonderliche Zugänge zur ersten.

Sonderlich sind seine Reflexionen vor allem durch eine starke, mitunter ironische Überhöhung und Objektivierung seiner Metaphern, der bewusst projektiven Lektüre von Naturerfahrungen. Er erzählt die Geschichten von Orten und Dingen als Geschichte der Kultur und andersherum; er denkt sich in Vogelköpfe und Wiesen hinein und liest darin den Menschen. Seine Auseinandersetzung mit der Natur ist ein Bekenntnis zu einer humanen Kultur.

Dieser Humanität harmoniert das stilistische Verfahren. Flussers Essays bieten ein assoziatives und spontanes Denken dar, angereichert mit gebildeten Bezügen, immer aber ohne Auftrag und statisches Ziel: freies Denken in einem sehr aufrichtigen Sinn. Allein im letzten, resümierenden Essay nimmt er dem Leser den Spaß am freien Lesen. In einer so narzisstischen wie unnötigen Geste engt er den Spielraum der eigenen Deutbarkeit auf wenige Schlagworte ein. Sie werden dem Reichtum seiner Essays kaum gerecht. Die Taube mit Sinn im Schnabel wird zu landen angehalten. Ende eines Vogelflugs.

Titelbild

Vilém Flusser: Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Edith Flusser.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
136 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3446199268

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