Preisfrage: Kann Sprache Gedanken verbergen?

Zur Neuausgabe von Harald Weinrichs "Linguistik der Lüge"

Von Katrin Viktoria MühlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Viktoria Mühl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harald Weinrich, Jahrgang 1927, Sprachwissenschaftler, ist im In- und Ausland mit Preisen, Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden vielfach geehrt. Nach seiner Eremitierung als erster deutscher Professor ans Collège de France berufen, lebt und arbeitet der umtriebige Ruheständler heute in München. Er ist Mitglied mehrerer Akademien und des deutschen PEN-Clubs.

Sein Klassiker "Linguistik der Lüge" wurde 1965 erstmals veröffentlicht als Antwort auf die erste Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ob Sprache die Gedanken verbergen könne. Nach fünfunddreißig Jahren gibt Harald Weinrich "der Schrift von damals ein Nachwort von heute" bei: er will mit sich selbst in einen kritischen Dialog treten. "Die Linguistik kann die Lüge nicht aus der Welt schaffen." Sie ist jedoch unter anderem dafür zuständig, zu beschreiben, "was sprachlich geschieht, wenn die Wahrheit zur Lüge verdreht wird".

Weinrich zeigt am Beispiel von großen historischen Denkern wie Augustin, Thomas von Aquin und Bonaventura, wie früh bereits darüber reflektiert wurde, dass Sprache die Gedanken offenbaren und nicht verbergen sollte. Allerdings gibt es Typen, ja ganze Berufsgruppen, bei denen angenommen wird, dass die Lüge quasi zu ihrer Profession gehört. Es sind dies Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte, Schauspieler, Ärzte, Gigolos, Generäle, Weinhändler und Konsorten.

Womit genau wird eigentlich gelogen, mit Wörtern, mit Sätzen? - Maßgeblich ist der Kontext, in dem einzelne Wörter stehen: "Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht", so Bertolt Brecht 1934. Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, erhalten einen zweifelhaften Klang: Beispiele sind "Endlösung" und der sich aus der Kombination der Worte "Blut und Boden" ergebende Bedeutungsrahmen. Es handelt sich um Begriffe, die einen Stellenwert in einer verlogenen Ideologie haben. Lüge kann also aus dem Kontext der Äußerung erschlossen werden. Sie besteht häufig genau aus dem Gegenteil dessen, was gesagt wird, und zwar wird das entscheidende, vom geäußerten Satz abweichende Assertionsmorphem (ja/nein) mitgedacht.

Wie steht es jedoch mit rhetorischen Figuren wie Ironie, Euphemismen und Ausdrücken der Höflichkeit? Wie sind Notlügen zu bewerten? Gibt es einen frommen Betrug? Heiligt der Zweck die Mittel? Bleibt der Wahrheit nur noch der reine Aussagesatz? - Im Grunde lügenfrei sind nur künstliche Sprachen wie die der Logik und Mathematik.

Das Feld der Lüge ist weit - doch genug der Appetithäppchen. Nicht nur für manche Germanistik-Studierende in frühen Semestern mit Frust am Linguistik-Pflichtprogramm bieten Weinrichs Stil- und Darstellungskunst, die sorgfältige Einführung in das Thema mit Exkursen zu Grundbegriffen der Linguistik noch immer Aha-Effekte - neunzig Seiten sind "sogar freiwillig" gut und gerne zu bewältigen. Das motivierende Lese- und Lernvergnügen wird vielleicht einzig getrübt durch die zahlreichen lateinischen Zitate und Redensarten, die meist nicht übersetzt sind.

Für jene, die noch die 1965er Auflage kennen, wird das ansprechend mit Magritte ("La Clef des songes", 1952) aufgemachte Büchlein eine anregende erneute Lektüre sein. Uns anderen ist es bestimmt eine kleine Anleitung zum Denken des Wahren und ein Einstieg in Weinrichs beeindruckendes Werk.

Titelbild

Harald Weinrich: Linguistik der Lüge.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
90 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3406459129

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