Sophokles mundgerecht

Der klassische Tragödiendichter in Helmut Flashars Monographie

Von Beate CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe "Die Klassische Antike" bietet der C. H. Beck Verlag Monographien zu Klassikern der Antike, seien dies nun Politiker, Philosophen, Autoren, Gestalten der Mythologie oder einfach klassische Themen. Gerade die in jüngerer Zeit verfassten Bände richten sich in ihrer Konzeption ausdrücklich an ein breiteres, über die Gruppe der Altphilologen und Althistoriker hinausgehendes Publikum, indem auf lateinische bzw. griechische Zitate und Fußnoten konsequent verzichtet und jeder Fachbegriff erläutert wird. Außerdem wird in diesen Büchern mit durchschnittlich 200 Seiten ein überschaubares Maß eingehalten.

In dieser Weise ist auch Helmut Flashars Sophokles-Buch angelegt. Innerhalb von 220 Seiten oder in zwölf Kapitel informiert der ausgewiesene Altphilologie- und Tragödienspezialist in mundgerechten Portionen von jeweils zehn bis 22 Seiten zunächst über den Aufbau einer antiken Tragödie, die sich von der modernen in wesentlichen Punkten unterscheidet, über die mythischen Stoffe, die er in einer Art existentiellen Transfers auf die politische Situation in Athen überträgt, über die jährlichen Feste, zu denen die Tragödien aufgeführt wurden, sowie über die bühnentechnischen Voraussetzungen und Sophokles' Leben vor dem Hintergrund der athenischen Geschichte. Dann interpretiert er die sieben erhaltenen Tragödien des Dichters "Aias", "Antigone", "Die Frauen von Trachis", "König Ödipus", "Elektra", "Philoktet" und "Ödipus auf Kolonos" sowie das zumindest in größeren Teilen überlieferte Satyrspiel "Ichneutai". Bei diesen Interpretationen folgt er regelmäßig einem viergliedrigen Schema, indem er 1) das Drama, soweit es möglich ist, datiert, literarische Quellen angibt und den zeitgeschichtlichen Hintergrund erläutert, 2) eine tabellarische Inhaltsangabe bietet, 3) den Text im eigentlichen Sinne interpretiert und analysiert und 4) kurz auf seine Nachwirkung hinweist. In der eigentlichen Interpretation untersucht er die Texte insbesondere unter drei Aspekten, nämlich in ihrer religiös-kulturellen Dimension, die sich aus der Bindung des athenischen Theaters speziell an den Dionysos-Kult ergibt, in ihrer politischen Dimension, da es sich um Werke eines athenischen Bürgers (griech. polítes) für die athenische Bürgerschaft zur Selbstdarstellung der Athener gegenüber ausländischen Gästen handelt, und in ihrer kommunikativen Dimension, insofern die Tragödie in ihrer Konzeption für einen bestimmten Zeitpunkt und für ein dem Dichter vertrautes Publikum zunächst nur mündlich vermittelt wurde.

Der sophokleische Aias beispielsweise, der im Streit um die Waffen des Achill hinter Odysseus zurückstehen muss, von Athene mit Wahn geschlagen wird und mordend in eine Rinderherde einfällt im Glauben, sich an den Griechen für die Ungerechtigkeit ihrer Entscheidung zu rächen und dann Selbstmord begeht, verliert unter diesem Blickwinkel durch den Wahn innerhalb der archaischen Adelsethik seine Identität als Held, die er nur im Tod wiederfinden kann. Menelaos und Agamemnon, die dem Toten die Bestattung verweigern wollen und seinen Bruder Teukros als Sohn des Telamon und einer Asiatin (Barbarin) wie einen Sklaven behandeln, werden zu Abbildern athenischer Adliger, die in einem inzwischen demokratischen Umfeld von ihrem Standesdünkel beherrscht ihre Zugehörigkeit zur alten Adelsschicht als rhetorisches Kampfmittel einsetzen und in ihrer Verweigerungshaltung den Erfordernissen eines politischen Pragmatismus nicht mehr gerecht werden können. Dieser Pragmatismus wiederum zeichnet Odysseus aus, der für die Bestattung plädiert, da er alle Probleme und Konflikte schnell lösen möchte, dessen Zwielichtigkeit sich aber darin erweist, dass er trotz seiner Fürsprache als Teilnehmer der Bestattung unerwünscht ist. Den Sophokles sieht Flashar daher nicht als "harmonischen Dichter der schönen Geste", sondern als "einen Kritiker der heldischen Welt, der modernen Gegenwelt, des rhetorischen Umgangs mit Worten und Phrasen, ja sogar des Wirkens der Gottheit, die sich nach dem Prolog zurückzieht und die Menschen sich selbst überläßt".

Abschließend formuliert Flashar eine Definition des Tragischen ausdrücklich unter Absehung der aristotelischen Poetik und ausschließlich im Rückgriff auf den empirischen Befund der sophokleischen Tragödien. Hierbei macht er Leid und Streit als die beiden im Epos präfigurierten und im Drama aufs äußerste gesteigerten Grundformen des Tragischen aus. Einsam Leidende sind besonders Aias, Ödipus, Philoktet, Antigone, streitende Gegner, die ihre Gegensätze in der Regel nicht überbrücken können, sind Antigone und Kreon, Ödipus und Kreon, Kreon und Haimon, Elektra und Klytaimnestra, Ödipus und Polyneikes. Da aber auch nach der Beendigung eines Streites, der durch einen Erkenntnisvorgang obsolet wurde, das Leid nicht endet, erkennt Flashar dem Leid eine höherrangige Kategorie des Tragischen zu. Literaturhinweise, ein Personen- und ein Sachregister schließen das Buch ab.

Zwar fragt man sich, weshalb man in der Bibliographie, die sicherlich nur eine Auswahl bieten kann, sich aber doch an ein deutschsprachiges, nicht nur aus Fachleuten bestehendes Publikum richtet, ausgerechnet Horst-Dieter Blumes "Einführung in das antike Theaterwesen" (1991) nicht findet, während wissenschaftliche englische Werke zum Thema genannt werden. Natürlich bedeutet auch die Zuspitzung der Interpretation auf eine vorwiegend historisch-positivistische Perspektive mit einigen intertextuellen Ausblicken auf die homerischen Epen eine gewisse Einschränkung, wobei wohl eine Methodenvielfalt den vorgegebenen Rahmen gesprengt hätte. Doch wäre es wünschenswert, dass derartige lesbare Einführungen mit solcher Informationsfülle noch zu weiteren Autoren vorgelegt würden.

Titelbild

Helmut Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
220 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3406466397

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