Reisen als dreidimensionaler Bildungsweg

Rafael Chirbes' Reiseessay "Am Mittelmeer"

Von Manuela JahrmärkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuela Jahrmärker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was heißt 'Reisen', was ist ein literarischer Reiseessay? Und was erwartet den Leser, wenn er Rafael Chirbes als Protokollanten eines Reisenden begleitet? Gewiss keinen anderen Baedeker, auch keinen Bericht, der eben nur besser formuliert ist als manch anderer Reiseführer.

Reisen ist Chirbes, dem Romancier, ein vielschichtiges Ereignis: ein Bewegen von Ort zu Ort, das versteht sich, und selbstverständlich auch ein Aufenthalt an fremder Stätte, doch mindestens ebenso ein vergleichendes Heranholen anderer, erinnerter Orte, dazu eine Diachronie von Geschichte und Gegenwart und nicht zuletzt ein Erleben im Lichte der Kunst, vor allem des Autors eigener Kunst, der Literatur. Reisen ist also ein Prozess der Bewegung: in Ort, Zeit und künstlerisch bewältigtem Erleben.

14 Orte und Städte mit klingenden Namen wie Alexandria und Byzanz, Knossos und Valencia, Venedig und Genua lässt Chirbes zu Spiegelbildern des Erlebens werden: keine exakten, detailverliebten Beschreibungen sind es, die er liefert und in denen das genau erfasste Detail für die Wahrheit des Erzählten einsteht, vielmehr al-fresco-Gemälde, die dem Leser, mag er bereits an dem gerade behandelten Ort gewesen sein oder auch nicht, weite Räume eröffnen. Auch wenn ein einzelner Ort ins Blickfeld rückt, ist der Reisende, wie Chirbes seine dargestellte Figur bewusst verallgemeinernd nennt und deren Gänge er verfolgt, doch nie wirklich nur an diesem einen Ort. Vergleiche und Hinweise auf andere Städte eröffnen Weiten, Hinweise auf andere Autoren spannen eigene Erfahrensräume auf. Geschichte ist stets ebenso präsent im selbstverständlichen Heranholen von Figuren und Ereignissen der Antike und der Neuzeit oder auch der jüngeren und unmittelbaren Vergangenheit wie die Gegenwart mit ihren eigenen Merkmalen wie U-Bahn, Auto und Flugzeug.

Das alles schafft Unbestimmtheitsstellen, wie Roman Ingarden sie nannte, denen eine Appellfunktion innewohnt: der Appell an den Leser, selbst tätig zu werden, zu ergänzen und "seine genaue Sicht auf das Meer des Inneren in die Lektüre einzubringen". So hat es Chirbes' Kronzeuge Fernand Braudel 1949 in seinem berühmten Werk "La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II" formuliert, der Historiker der Schule der "Annales". 'Werk' wäre somit etwas Offenes, Prozesshaftes und zwar nicht erst im Laufe der Historie, der das Werk unterworfen ist, sondern bereits in der Gegenwart: Der Leser als Koautor.

Allenthalben also sind Anknüpfungspunkte für ganz Verschiedenes und für fast jeden gegeben: für jenen, der einmal in der einen oder anderen mediterranen Stadt weilte und insgesamt für jeden, der überhaupt schon einmal eine Reise unternommen hat, bei der Fremd und Eigen plötzlich verschwimmt und das Eigene im Fremden ebenso hervortritt wie das Fremde am Eigenen bewusst werden kann. Für jenen, der Walter Benjamins Gedanken zur Aura des Kunstwerks kennt - in: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" - und sich nun fragt, was ihn denn eigentlich an einer südländischen Stadt anzieht, deren Kunst oder ihr morbider Charme; oder jenen, der in Erinnerung an Lessings fruchtbaren Augenblick, der die Einbildungskraft des Rezipienten anregt und bei dem im Jetzt sowohl das Davor als auch das Nachher aufbewahrt ist, Chirbes' Worten zum erfüllten Augenblick folgt und daraufhin sich selbst prüfend fragen kann, welche Momente einer eigenen Reise denn tatsächlich 'erfüllte Augenblicke' genannt zu werden verdienen - oder einfach gesprochen: die Reise wert waren. Mit solcherart Anspielungen führt Chirbes selbst vor, wie dies Einbringen der Erinnerung, das er sich von seinem Leser wünscht, funktionieren kann.

Dabei sind die gelehrt-literarischen Bezüge keineswegs die einzigen; es gibt da auch, ausgehend von der Frage nach dem erfüllten Augenblick, die zivilisationskritische Frage, was Reisen heute denn wirklich ist. Anstehen, Warten, Gedränge, Flughäfen, verspätet eintreffende Koffer, wobei dann eben jener 'erfüllte Augenblick' auf der Strecke bleibt. Und wie Reisen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen offen legt und den im Flugzeug auf modernste Technik Vertrauenden mit dem Fischer konfrontiert, der sein Netz wie vor Jahrhunderten flickt, so kann es auch den Blick auf die Absurditäten des Tourismus nicht verwehren.

Dass Chirbes diese Themen nicht einzeln behandelt, sondern sie jeweils anreißt, hier und dort wieder aufgreift, wie er auch viele Städte und Autoren verschiedentlich immer wieder nennt, ist für ihn selbstverständlich, der in seinen Texten stets ein Netz von Beziehungen zu entwerfen weiß. Geradezu unmerklich, so scheint es, fügen sich die so verschiedenen Kapitel zu einer Reise und damit zu einem literarischen Ganzen. Das Motiv des Blickes aus dem Flugzeug eröffnet und beschließt Chirbes' Reisebericht. Geschickt spielt er mit dem erfüllten Geruch (in "Die Früchte des Vergessens") auf den erfüllten Augenblick (in "Fragmente des Goldenen Zeitalters") an und spannt mit dem Gedanken des Nebeneinander sowie des befruchtenden Miteinander von Europa und dem Orient und dem afrikanischen Kontinent einen motivischen Faden. Diese Reisebilder wecken vielleicht weniger die Lust zum Reisen in seiner physischen Bedeutung, sie regen vielmehr dazu an, dem einen oder anderen der vielen Gedankenwege nachzuspüren, auf die der Romancier für Augenblicke das Licht fallen lässt.

Titelbild

Rafael Chirbes: Am Mittelmeer.
Übersetzt aus dem Spanischen von Thomas Brovot, Stefanie Gerhold, Christian Hansen und Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2001.
159 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3888972604

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