Rousseau biographisch

Einladung zur Interpretation eines Lebens

Von Dominic PfauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominic Pfau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Biographien über berühmte Persönlichkeiten sind oft im Gestus einer Interpretation geschrieben. Deren Paradigma ist bekannt: Erlebnisse der Jugendjahre sind für das spätere Werk maßgebend. Allzu verbindlich wird das innere Leben und dessen Niederschlag im Œuvre aus dem äußeren Leben entwickelt.

Jens-Peter Gaul verfasste seine sorgfältig recherchierte Biographie hingegen in Rousseaus Sinne. Rousseau begründete mit seiner programmatisch-diskursiven Schrift "Bekenntnisse" eine neue Form der Selbstdarstellung in der Literaturgeschichte. Mittels Introspektion und geschulter Selbstbeobachtung setzte er sich von Darstellungen ab, die nur aus einer Aneinanderreihung von Lebens- oder Karrieredaten bestanden und gelangte er zu einer moralischen und seelischen Dimension und Lesart des eigenen Lebens.

In Gauls Biographie wird eine große Sammlung von Zeugnissen aufbereitet, die aus den verschiedensten Blickwinkeln Rousseaus Lebenserfahrungen widerspiegeln. Doch, und das macht die Lektüre zu einem spannenden Erlebnis, überlässt es der Biograph dem Leser, einen Faden zwischen dem äußeren und inneren Leben zu spannen, damit dieser selbst zu einer Deutung der biographischen Stationen gelangt. Gewiss gibt Jens-Peter Gaul schlüssige Anknüpfungspunkte für eine Interpretation einzelner Lebensphasen, aber nie eine Vorausdeutung auf spätere Entwicklungen. Vielmehr zeichnet er ein plastisches Portrait, das den Rezipienten am Überraschenden und Unerwarteten dieser unruhigen Vita teilhaben lässt.

Und dennoch ist man immer orientiert, nicht zuletzt auch dank der überschaubaren Seitengestaltung: In der Fußleiste finden sich Ergänzungen zum Haupttext, Auszüge aus Briefen, Episoden aus Rousseaus Leben, kurze historische Erläuterungen oder Einführungstexte zum Werk des Philosophen etcetera. Die musiktheoretischen Schriften finden dabei ebenso Beachtung wie die kulturtheoretischen Werke, das staatstheoretische Werk "Vom Gesellschaftsvertrag" ebenso wie Rousseaus pädagogische Schrift "Emile oder Über die Erziehung".

Rousseaus Lebensverlauf kann als Gegensatz zu dem seines Zeitgenossen Immanuel Kant gelesen werden, der Königsberg nie verlassen hat, während Rousseau durch politische und wirtschaftliche Gründe durch halb Europa getrieben wurde. Die Jugend verlebte der Verfasser des "Sozialkontrakts" von 1712 bis 1728 in Genf. Hieran schloss sich die Lebensphase der Bildung und Ausbildung bei Madame de Warens bis 1741 in Turin und Lyon an. Erst in den folgenden Jahren (1741-1756) begann Jean-Jacques seine schriftstellerische Tätigkeit im Umkreis der Enzyklopädisten.

Sein letzter Lebensabschnitt gleicht einem unruhigen Strom: Ein unstetes Wanderleben führt ihn aus politischen Gründen über die Schweiz nach England, wo er David Hume kennen lernt, und wieder zurück nach Frankreich.

Erhellend auf die Darstellung dieser Lebensphasen wirkt sich vor allem die polyperspektivistische Rekonstruktion der mannigfaltigen Verbindungen und Kontakte zu anderen Personen des Zeitgeschehens aus: Als bekannteste wären wohl Voltaire und Diderot zu nennen.

Rousseaus Gefühlsleben wird durch die Akzentuierung auf zwei wichtige Personen illustriert. Die Freundschaften zu Madame de Warens und zu Denis Diderot, die in ihrer Art wohl kaum gegensätzlicher sein könnten. Madame de Warens tritt als Erzieherin, Mutterfigur, Mäzenin, Freundin und Liebhaberin auf. Rousseaus Bindung zu ihr bleibt ein Leben lang in einem empfindsamen Verhältnis bestehen. Die Beziehung zu Diderot ergab sich durch die gemeinsame Arbeit an der Enzyklopädie - jene eine empfindsame, diese eine sachliche Freundschaft. Die Verbindung zu Diderot endete im unversönlichen Streit, die Verbindung zu Madame de Warens scheint Rousseau trotz äußerer Trennung intensiv erlebt und reflektiert zu haben.

Jens-Peter Gauls lebendige Darstellung hebt die Distanz zu einem scheinbar entrückten Gegenstand auf. Zugleich führt sie in die sozialen und politischen Umstände der Zeit und des Œuvres ein. Eine gelungene Einführung für den Neuling, eine gelunge Biographie für den Neugierigen.

Titelbild

Jens Peter Gaul: Jean-Jacques Rousseau. Biographie.
dtv Verlag, München 2001.
160 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3423310502

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch