Goethe als Touristenattraktion?

Vier Vorträge zur Geschichte der Goethe-Rezeption

Von Yvonne MesserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Messer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst." So wie Friedrich Nietzsche erhitzen sich die Gemüter bis heute, die diesen "Geist, der stets verneint", zu fassen versuchen.

1999, als man zum 250. Mal Goethes Geburtstag feierte, erhoben sich vielleicht wieder mit hervorstechender Aktualität Fragen nach jenem genialen Wesen, dessen Werte nun schon einige Zeitenwirbel überdauerte. Die Menschen pilgerten also unerwartet zahlreich im Goethejahr nach Weimar, um die Wirkungsstätte dieses höchst produktiven und vielseitig interessierten und begabten Mannes zu bestaunen. In Frankfurts Hirschgraben pflasterte man flugs das Trottoir, um den Weg zu Goethes Geburtshaus zu erneuern - und dabei einige Stolpersteine zu beseitigen? Wie viele Menschen inmitten der massenhaften (Literatur-) Touristen sind denn nun tatsächlich beim Lesen von Goethes Werken neugierig darauf geworden, sich dieser epochemachenden Gestalt einmal anzunähern?

An der Universität Bielefeld fand zur gleichen Zeit eine Ausstellung statt, die sich mit der Geschichte der Goethe-Rezeption beschäftigt hat. In dem Band "Mitwelt-Nachwelt-Internet" sind vier der im dortigen Rahmen gehaltenen Vorträge veröffentlicht.

In seinem Vorwort verdeutlicht Jörg Drews, Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts, wie weit sich das Spannungsfeld voller sich scheidender Geister um Goethe herum einerseits erstreckt. Andererseits scheint die Reichweite von Goethes Werk zusehends geringer zu werden. Goethe ist doch schließlich nur noch Pflichtlektüre in der Schule, oder?

In den Aufsätzen lässt sich mitverfolgen, wie der Goethekult, die "Goethemania", bereits zu Goethes Lebzeiten in Berlin begann. Ulrich Holbein versucht unverfroren und frech zu ergründen, wo und wer Goethe heute sei. Etwa ein "Welteroberungsterrorist", dem man gezwungenermaßen Respekt erweist?

Wie stehen eigentlich die Autoren des 20. Jahrhunderts zu diesem Meilenstein in der deutschen Literatur? Hemmt er sie in der Entfaltung der eigenen Schreibkunst und Ideenwelt? In Christoph Perels Augen bewegen sich die Reaktionen zwischen Bewunderung und harscher Schelte. Karl Jaspers' Ausspruch ist an dieser Stelle vielleicht eine versöhnliche Überbrückung zwischen den vielen Kluften, die sich hier auftun: "Goethe ist wie eine Vertretung des Menschseins, ohne doch der Weg für uns zu werden, dem wir folgen können. Er ist exemplarisch ohne Vorbild zu sein."

Ein Fazit zum Goethejahr 1999 versucht einen leisen Appell, das "sich entfernende Sternbild Goethe" nicht entwischen zu lassen. Und die vielen und mit reger Teilnahme begleiteten Aktivitäten rund um das Geburtstagskind hätten ja auch gezeigt, dass der Mittelweg zwischen idealisierendem Kult und zerfetzender Ablehnung längst beschritten worden ist.

Denken wir an Gottfried Benn, der den Goethe umgebenden mystischen Nebel mit folgenden Worten wegpustet: "Man hört jetzt oft die Frage nach einem 'richtigen' Goethebild, das wird es nicht geben, man muß sich damit begnügen, daß hier etwas ins Strömen geraten ist, das verwirrt, nicht zu verstehen ist, aber an die Wüste gewordenen Ufer Keime streut -: das ist die Kunst." Am Schluss bietet das Buch einen knappen Überblick über die Fülle der Möglichkeiten im digitalisierten Zeitalter, im Internet nach jenen "Keimen" zu suchen.

Titelbild

Jörg Drews: Mitwelt - Nachwelt - Internet. Vorträge und Materialien zur Rezeption Goethes zwischen 1800 und 2000.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
174 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3895282995

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