Flaneur mit Luxusschuhen

Wilhelm Genazinos Roman "Ein Regenschirm für diesen Tag"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf eine merkwürdige Weise beneidet man zunächst Wilhelm Genazinos Protagonisten - die immer wieder kehrenden Flaneure, die das Wort Hektik nicht kennen und die sich eines fotografischen Gedächtnisses rühmen dürfen. Seit 1989 ("Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz".) schickt Genazino (Jahrgang 1943) seine Figuren auf Beobachtungs- und Selbstfindungstour durch die Großstadtstraßen. Sieht man genauer hin, möchte man mit den sich stets ähnelnden Figuren dann doch nicht tauschen.

Im neuen Roman bekommt der Flaneur seine Passion sogar als Beruf verpasst. Er testet Luxusschuhe und fertigt über seine Erfahrungen ausführliche Berichte an. Diese Detailbesessenheit schlägt sich ungebrochen auch in den Aufzeichnungen des Protagonisten nieder, der beim Gebrauch von Wörtern wie "Geröll" und "Gestrüpp" viel Freude empfindet. Ohne Zweifel, ein Verbalakrobat - wie sein geistiger Vater.

Wen wundert es, dass dieser Berufs-Flaneur allein lebt? Seine Lebensgefährtin Lisa, eine sensible Frührentnerin, hat ihn verlassen, weil sie eine "Verflusung" seiner Existenz und "eine mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt" festgestellt hat. Doch Lisas Abschied bleibt weitestgehend folgenlos.

Die Hauptfigur zeichnet sich durch vordergründig zur Schau gestellte Selbstzufriedenheit und eine gehörige Portion Selbstverliebtheit aus. Zu intensive menschliche Nähe scheint er nicht auszuhalten. Der Schuh-Tester sinniert über die "Grundmerkwürdigkeiten des Lebens" und gibt sich auf einer Party als Leiter eines "Instituts für Erlebnis- und Gedächtnisforschung" aus. Doch es ist ein vom Autor mit viel Ironie und großer artifizieller Raffinesse gestaltetes Verwirrspiel. Seine Hauptfigur ist tatsächlich ein tieftrauriger Mensch; eine Person, die eine schwere Identitätskrise durchlebt: "Genau genommen warte ich immer noch darauf, dass mich jemand fragt, ob ich hier sein möchte."

Als Genazino 1990 der Bremer Literaturpreis verliehen wurde, befasste er sich in seiner Dankesrede mit dem "Ohnmachtswissen". Von der Ohnmacht handelt auch dieser Roman, vor allem von den nicht abzustreifenden Fesseln der sozialen Rollen. Es ist ein zutiefst melancholisches, beinahe lethargisches Buch, das man nur an einem Sonnentag lesen sollte, denn bei Genazino heißt es: "Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein langgezogener Regentag geworden ist und aus ihrem Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag."

Titelbild

Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
174 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446200495

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