Schurken und Heilige
Ulrich Müllers und Werner Wunderlichs Edition der Mittelaltermythen umfasst inzwischen drei monumentale Bände
Von Ralf Georg Czapla
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGroße Gestalten der Geschichte, Sagenfiguren und Fabelwesen haben seit jeher die Phantasie des Menschen beflügelt. Auch an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert scheint das Interesse an ihnen ungebrochen. Da treibt im Hollywood-Kino eine Mumie ihr Unwesen, wird mit Lara Croft eine Cyber-Variante des Amazonenmythos geschaffen und den Weissagungen des Nostradamus eine fragwürdige Aktualität zugeschrieben. Woher diese offensichtlich so faszinierenden Gestalten allerdings stammen, in welchen literarischen und kulturgeschichtlichen Zeugnissen sie erstmals beschrieben wurden, gerät angesichts ihrer Rezeption in den populären Bild- und Printmedien mehr und mehr aus dem Blick. Die Literaturwissenschaftler Ulrich Müller und Werner Wunderlich haben daher in Zusammenarbeit mit zahlreichen europäischen, amerikanischen und kanadischen Wissenschaftlern das interdisziplinäre Arbeitsprojekt "Medieval Myths" ins Leben gerufen, in dem seit 1992 über die Bedeutung von Mythen für das heutige Geschichtsbild diskutiert wird. Die Erträge der gemeinsamen Arbeit werden lemmatisiert in der Buchreihe "Mittelaltermythen" dargeboten.
Die Initiatoren wollen den Begriff Mythos funktionalistisch verstanden wissen. Mythen sind ihrer Auffassung nach überlieferte oder aktualisierte Konkretisationen von Gestalten, Geschehen, Gegenständen und Gegenden, die erzählerisch ein Konzept bereitstellen für das Verhältnis des Menschen zu seinen Erfahrungen und zur Welt. Vorrationale Mythen, so heißt es in der programmatischen Einleitung der Herausgeber zum ersten Band der Reihe, bewahrten fundamentale Wahrheiten und archaisches Wissen auf, derer sich die Rationalität immer dann erinnere, wenn der wissenschaftlich-technische oder gesellschaftlich-ideologische Fortschritt an seine Grenzen stoße. Mythen unterlägen somit gleichermaßen Tradition und Wandel. Ihre symbolhafte oder auch lebenspraktische Bedeutung verändere sich und passe sich den sich neu regelnden Lebensbedingungen an.
Die Geschichtlichkeit des Mythos liegt, wie schon Hans Blumenberg betonte, in der Geschichte seiner produktiven Rezeption. Es gehört zum Wesen des Mythos, dass er immer wieder erzählt und dass er, während er erzählt wird, Veränderungen erfährt. Moderne und Postmoderne vergegenwärtigen und schaffen im Rahmen der Mittelalter-Rezeption jene "Medieval Myths", um darin historische Existenzweisen und gegenwärtige Möglichkeiten unseres heutigen Daseins auszudrücken. Mythen werden damit zugleich Darstellungsformen und Verstehensweisen für den Sinn und die Anwendung von Normen und Werten.
Das Spektrum der im Forschungsprojekt "Medieval Myths" integrierten Wissenschaftsgebiete reicht von der Literatur- und Geschichtswissenschaft über die volkskundlichen, sozialwissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen bis hin zur Psychologie und den Religionswissenschaften. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen solche Mythen, die entweder aus dem Mittelalter stammen oder für diesen Zeitabschnitt zwischen Antike und Renaissance von historischer und kultureller Bedeutung sind. Diese Mythen sind primär in Literatur und Kunst, Religion und Brauchtum überliefert, und zwar einerseits als Erzählungen von Göttern, Helden und Geschehnissen aus antiker, keltischer, germanischer und orientalischer Tradition, die das Mittelalter aufgreift und neu gestaltet, andererseits in Form von fiktionalen Figuren, historischen Personen, religiösen Gestalten, phantastischen Wesen, Gegenständen und Zeichen, Ereignissen und Entwicklungen, die das Mittelalter hervorbringt und oft als Mystfikationen verklärt, und schließlich als Rezeptionsobjekte, die ein neuzeitlicher Mythisierungsprozess im Nachhinein zu einem Mittelalter-Faszinosum von symbolhafter Bedeutung stilisiert. In derartigen Mittelaltermythen drückt sich symbolhaft eine Weltdeutung aus, die historisch an ein bestimmtes Geschichts- und Menschenbild gebunden ist. Je stärker der Mythos allgemein-menschliche Bedürfnisse und Hoffnungen, aber auch Ängste und Nöte formuliert, desto nachhaltiger ist seine Wirkung. Die vorläufig auf sieben Bände angelegte Reihe der Mittelaltermythen will die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen der "Medieval Myths", ihre Entstehung, Verbreitung, Überlieferung und Rezeption sowie ihren Einfluss auf Traditionen und Symbole untersuchen, durch die Menschen als Individuen und in Gemeinschaft zu Identitätsbewusstsein und Orientierungsmustern finden. Sie versteht sich nicht als Handbuch, das Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern will eine repäsentative Auswahl von Mittelaltermythen vorstellen, wobei der methodische Zuschnitt der einzelnen Beiträge den jeweiligen Verfassern überlassen bleibt und nicht zugunsten einer redaktionellen Vereinheitlichung nivelliert wird.
Die bislang erschienenen drei Bände stellen Gestalten der Historie und der Sage jeweils in einem übergeordneten thematischen Zusammenhang vor, der durch drei kategoriale Begriffe charakterisiert ist. "Verführer, Schurken, Magier" fasst in loser alphabetischer Reihenfolge die überwiegend negativ dargestellten, freilich nicht immer unter negativen Vorzeichen rezipierten Gestalten im Spektrum der "Medieval Myths" zusammen und bildet so gewissermaßen ein Pendant zum ersten Band, in dem sich mit den "Herrschern, Helden, Heiligen" ausgesprochene Lichtgestalten befinden. Der Band erfasst solche historischen Personen und Figuren, die wegen Normverletzungen und Sittenverstößen unterschiedlicher Art aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden oder sich von der Gesellschaft entfernt haben, um sie von außen zu bedrohen. In den Eigenschaften und Verhaltensweisen dieser Figuren spiegelt sich oft das Fragwürdige gängiger Normen, Sitten und Gebräuche sowie die Suche nach Rechtfertigung alter und die Begründung neuer ethischer Normen und Werte wider, was sie letzten Endes zu ambivalenten Gestalten werden lässt. Die mythisierten Verführer, Schurken und Magier nehmen zumeist eine gesellschaftliche Außenseiterposition ein und spielen die Rolle des Provokateurs. Zwar legen sie nicht anders als die Herrscher, Helden und Heiligen ein nonkonformes Verhalten an den Tag, doch dient die Durchbrechung der gesellschaftlichen Normalität nicht dazu, ein von der Gesellschaft akzeptiertes Ideal zu verwirklichen.
Als Verführer werden geschlechtsübergreifend all jene Figuren bezeichnet, die durch ihre Persönlichkeit, durch Versprechungen, durch Macht oder durch Täuschung das Verhalten anderer zu deren Nachteil beeinflussen. Eine besondere Rolle spielt dabei der Bereich von Sexualität und Erotik, denn sinnliche Verführung berührt nicht nur das Selbstverständnis des Menschen als Individuum und seine soziale Rolle im Geschlechterverhältnis, sondern auch seine Beziehung zu einem ethisch-moralischen Wertekodex und zu gesellschaftlichen Konventionen. Figuren, die ihre Sinnlichkeit zur Verführung anderer einsetzen, sind z. B. Eva, Pothiphars Frau, Judith, Bathseba, Helena, Don Juan, Kirke, Melusine, Pandora, Salome oder Venus. Die Gruppe der Schurken nimmt sich im Vergleich zu der der Verführer diffuser aus. Hierunter werden all jene zusammengefasst, deren moralische Verkommenheit, List und Tücke Einzelnen oder der Gesellschaft zum Schaden gereicht. Im Spätmittelalter wurde der Schurke zunächst als Standestypus definiert, verstand man darunter doch solche Leute, die unehrenhaften Tätigkeiten nachgingen und deren unstete Lebensweise oftmals als dämonisch diskriminiert wurde, also Bettler, Bader, Quacksalber, Prostituierte, Henker, Spielmänner oder Gaukler. Als wohl prominentestes Beispiel darf der Rattenfänger von Hameln gelten, den die Mittelaltermythen zum einen im historischen Kontext des Hamelner Kinderauszugs und zum anderen als bis in die unmittelbare Gegenwart rezipierte Mythengestalt vorstellen. Außerhalb jeglicher ständischen Zuordnung steht der Verräter, der in der Maske des Ehrlichen und moralisch Integren selbstsüchtige und auf die Schädigung anderer angelegte Ziele verfolgt und dabei rücksichtslos gegebene Treueversprechen bricht. Als biblischer Prototyp des Verräters gilt Judas, der in der gesamten mittelalterlichen Literatur und Theologie eine zentrale Rolle spielt. Aber auch der Verräter Genelun aus dem Rolandslied, Isembard oder König Yon gehören in diesen Kontext. Die Figur des Magiers schließlich verdankt ihre Entstehung und Existenz abergläubischen Vorstellungen, wie sie von der Antike über das Mittelalter bis zur Aufklärung gewirkt haben. Unverständnis und mangelnde Einsicht in die Ursachen von Unglücksfällen, Naturereignissen oder Krankheiten weckte in den Menschen den Wunsch, mittels Zauberformeln und Beschwörungen Einfluss auf ein Geschehen zu nehmen, das sich empirischen Erklärungsmöglichkeiten und damit auch dem unmittelbaren Zugriff entzog. Die Magie wurde als ein Weg begriffen, die materielle Welt willentlich zu beeinflussen. Wenig trennscharf zwar, dafür aber hilfreich und anschaulich unterschied man zwischen der gottgewollten weißen Magie (Theurgie) und der teuflischen schwarzen Magie (Goëtie), unter die alle Formen der Zauberei, Hexerei und Nekromantie gerechnet wurden. Um als Magier zu gelten, bedurfte es oftmals nur herausragender Leistungen und Erfolge eines Menschen. Selbst ein Gelehrter wie Albertus Magnus, dessen "Magia naturalis" nichts weiter als die Beherrschung der Naturgesetze meinte, verfiel auf diese Weise dem Magieverdacht. Zu den Magiern zählten ferner Merlin und Taliesin aus dem keltischen Bereich sowie der Astrologe Nostradamus, dem geheimnisvolle Prophezeiungen zugeschrieben werden.
Die insgesamt sechzig Beiträge des Bandes zeichnen sich allesamt durch vorzügliche Lesbarkeit aus, wodurch sie sich auch dem interessierten nichtwissenschaftlichen Leser öffnen. Sinnvoll eingesetzte Abbildungen illustrieren den Text und schaffen eine Verbindung zwischen den Text- und den Bildzeugnissen der Mythenüberlieferung. Positiv hervorzuheben ist, dass die Betrachtung der Mythen in vielen Fällen nicht sklavisch auf die mittelalterliche Überlieferung beschränkt bleibt, sondern die Frühe Neuzeit und zuweilen sogar die Moderne mit einbezieht. Dass die frühneuzeitliche und moderne Rezeption von Mittelaltermythen nur exemplarisch behandelt werden kann, scheint im ersten Fall wegen der rudimentären Erschließung des Quellenmaterials, im zweiten wegen der enormen Breite des Textmaterials nur allzu verständlich. Gleichwohl drängt sich zuweilen der Eindruck auf, als seien neuere Quelleneditionen und aktuelle Forschungsliteratur nicht genügend berücksichtigt worden. So bleibt im Judas Ischarioth- Beitrag von Maria Dorninger nahezu der gesamte Bereich der frühneuzeitlichen Bibelepik ausgeblendet. Gerade aus den Judas-Darstellungen von Bibelepikern wie Vida oder Gryphius, dessen lateinische Epen seit 1999 in einer zweisprachigen Edition vorliegen, hätten sich wichtige Erkenntnisse über den Wandel der Judas-Gestalt gewinnen lassen. Statt dessen wagt die Verfasserin den kühnen Sprung von Thomas Naogeorgus (1552), Martin von Cochem (1683) und Abraham a Santa Clara (1686) zu Klopstocks "Messias" (1748-1773). Wolfgang Mieders Beitrag zum Rattenfängermythos stellt im wesentlichen noch einmal das Bildmaterial vor, das er bereits in seinem Aufsatz "Der Rattenfänger von Hameln in der modernen Literatur, Karikatur und Werbung" behandelt hatte. Was die literarischen Adaptationen des Mythos betrifft, so werden neuere Forschungsbeiträge etwa zu Wilhelm Raabes Novelle "Die Hämelschen Kinder" nicht dokumentiert und bleiben lesenswerte Aktualisierungen des Mythos wie Christian Rauschs Erzählung "Fabula rasa oder Der Saubermann von Hameln" - möglicherweise wegen des frühen Redaktionsschlusses der "Mittelaltermythen" -außen vor. Solche im Detail noch häufiger feststellbaren Mängel einzelner Beiträge vermögen jedoch den positiven Gesamteindruck, den auch der dritte Band der Reihe hinterlässt, nicht zu schmälern.
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