Verbrechen - Justiz - Medien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 1979 von der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft eingerichtete interdisziplinäre Forum "Literatur und Kriminalität" hat bis heute reiche Früchte getragen. Mittlerweile liegen drei umfangreiche Bände in der Reihe "Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur" im Max Niemeyer Verlag vor. Der hier zu annoncierende Band basiert auf einem Kolloquium, das Joachim Linder (München) und Claus-Michael Ort (Kiel) 1994 in Kiel durchgeführt haben. Ziel der Beitragssammlung ist es, die in Band 8 und Band 27 abgesteckten Erfassungsräume von der Frühen Moderne bis in die unmittelbare Gegenwart zu erweitern und für angrenzende Disziplinen, insbesondere die Medienwissenschaft und die Filmphilologie zu öffnen.

Mit einem repräsentativen Korpus von 269 (sic!) Dramen untersucht Michael Titzmann das Drama des Expressionismus im Kontext der Frühen Moderne. "Frühe Moderne" ist bei Titzmann Epochenbegriff für die Zeit von circa 1890 bis 1930, "Expressionismus" bezeichnet eine Richtung, die von anderen abzugrenzen ist: dem naturalistischen Drama einerseits und dem nicht-naturalistischen und anti-naturalistischen Drama andererseits. Aus den Dramenstrukturen abstrahiert der Verfasser präzise Modelle, formuliert ihre wichtigsten Regularitäten und ordnet ihnen dann die Texte entsprechend zu. Damit lassen sich die Dramentexte optimal rekonstruieren und auch vergleichen und ungewöhnliche Varianten als "Transformationen" des Modells beschreiben.

Unsere Medien inszenieren tagtäglich Kriminalität, wobei das Wort 'inszenieren' noch zu wenig sagt: Im Fall des belgischen Kindermörders Marc Dutroux haben die Medien ein Verbrechen über Monate geradezu zelebriert. Ein krasses Beispiel, das eine Staatskrise herbeiführte, die bis heute nicht überstanden ist. Es kann freilich nicht überraschen, dass der Kriminalbericht in den Medien zur Sensationsberichterstattung tendiert und dass die Medien dabei nicht vorrangig an Wahrheitsfindung interessiert sind. Inge Weiler demonstriert in ihrem Beitrag die "Diffamierungsstrategien" der Illustrierten, die mit einfach gestrickter Psychologie zu ihrer 'Wahrheit' und zu ihrem Publikum finden. Im Fall der Christa Lehmann, die 1954 drei Menschen vergiftete, wird das Tatmotiv kurzerhand aus dem Lebenswandel der Täterin konstruiert. Ein vergleichbarer Fall, der uns noch in Erinnerung sein dürfte, ist der der Kindsmörderin und 'Ehebrecherin' Monika Weimar. Auch sie konnte von der Hochglanzpresse weder Fairness noch Gnade erwarten.

Der Giftmord gilt dabei als typisch weibliche Tötungsform, und zwar im Laiendiskurs der Tages- und Wochenpresse ebenso wie in den Fachdiskursen. Der interdisziplinär angelegte Band will in seinen Beispielanalysen zeigen, wie Realität in den verschiedenen Diskursen, Professionen, Gattungen konstruiert wird, in fiktiven Texten (Literatur) ebenso wie in Film- und Fernsehdokumentationen. Martin Lindner nimmt in seinem Beitrag über den "Mythos 'Lustmord'" ausdrücklich Bezug auf den "konnotativen Horizont" der behandelten 'Lustmord'-Texte bzw. 'Lustmord'-Filme. Er kann zeigen, dass die zeitgenössischen Sensationsfälle für die Produktion von 'Kunst' durchaus eine Rolle spielen. Robert Musil etwa hat sich intensiv mit Fritz Haarmann und Peter Kürten beschäftigt. Ausgangstext von Bernhard Greiners Aufsatz ist Musils Erzählung "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" (1906), die nicht vorrangig als Ausdruck einer 'Adoleszenzkrise' gewertet wird, sondern als Darstellung einer anderen, schockhaft-erkenntnisstiftenden Wirklichkeitserfahrung. Neben Musil behandelt Greiner Texte von Adolf Muschg ("Der Zusenn oder das Heimat", 1974) und Alexander Kluge ("Warten auf bessere Zeiten", 1977), eine Zusammenstellung, die etwas beliebig anmutet.

Den Blick auf den konnotativen Horizont der Wirklichkeit eröffnet auch Holger Dainat in seiner Analyse der Wachtmeister-Studer-Romane von Friedrich Glauser. Kriminalistische Fachliteratur bildet einen der 'Subtexte' dieser Romane. Explizit beruft sich Protagonist Studer auf authentische Fälle: Seine "kriminologische Schulung" hat er unter anderem bei dem Grazer Professor Hans Groß genossen, der 1913 seinen eigenen Sohn, Otto Groß, entmündigen und internieren ließ. Mit dem Rückgriff auf die wissenschaftliche Kriminalistik begründet Friedrich Glauser seine Erzählweise, unterstreicht er seinen "Anspruch auf Wirklichkeitsnähe" und legitimiert seinen "spezifischen Umgang mit Realität".

Krimis, Western, Horrorfilme erleichtern aufgrund ihrer "Regelstarre" so manche Korpusbildung. Albert Meier demonstriert in seinem Beitrag die stereotype Didaktik des 'frühen' Kriminalromans der DDR. Der Beitrag von Peter Drexler untersucht Subgenres des deutschen Gerichtsfilms im Zeitraum 1930 bis 1960, darunter das Justizmelodram und die Justizkomödie. Anders als im US-amerikanischen "courtroom drama" muss hier die Gerichtsszenik keine zentrale Funktion haben. Dieser Aspekt wird in einem Korreferat von Matthias Kuzina gestriffen ("'True Crime'- Gerichtsfilme in den USA"). Hans Krah untersucht den 'Film noir' der vierziger und fünfziger Jahre, Ricarda Strobel die Entwicklung der deutschen Fernsehkrimiserie 1953 bis 1994 und Ingrid Brück die Verbrechensdarstellung im deutschen Fernsehkrimi. Ursula von Keitz schließlich bewältigt ein sehr heikles und schwieriges Thema: den Aspekt 'lebensunwerten Lebens' in Filmen der Weimarer Republik und der NS-Zeit.

Neben der Literatur der Frühen Moderne als Schwerpunkt finden in diesem Band also filmphilologische und medienwissenschaftliche Forschungen verstärkt Berücksichtigung. Fragen grundsätzlicher Natur - zum Beispiel nach dem Verhältnis von Belletristik und kriminologischer Forschung - erörtert Gabi Löschper; Thomas-Michael Seibert bestaunt "Parallelen zwischen literarischen und juristischen Texten" und beschäftigt sich mit der Theorie und Praxis des abduktiven Schließens; Achim Barsch nimmt sich die Indizierungspraxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zur Brust, und Martin Stingelin wendet sich Nietzsches Typologie des Verbrechers zu. Die beiden Herausgeber Joachim Linder und Claus-Michael Ort präsentieren einen Literaturbericht "Zur sozialen Konstruktion der Übertretung".

Titelbild

Joachim Linder / Claus Michael Ort (Hg.): Verbrechen-Justiz-Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1999.
518 Seiten, 91,00 EUR.
ISBN-10: 3484350709

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