Der eigenen Notwehr verpflichtet, uneigene Gedanken nachziehend

Der Maler Rainer Wölzl antwortet auf Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands"

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Ausstellung des Mannheimer Kunstvereins im Frühjahr war ein Teil zu sehen, in der des Marburger Kunstvereins zwei Monate später das Ganze, in der der Stiftung für Bildhauerei im Kolbe Museum Berlin im kommenden Jahr (20.1.-1.4.2002) wird wiederum nur ein Teil zu sehen sein: Gemeint ist die bildkünstlerische Auseinandersetzung Rainer Wölzls (geb. 1954) mit dem Hauptwerk von Peter Weiss (1916-1982), dem Roman "Die Ästhetik des Widerstands", erschienen in drei Bänden 1975-1981.

Peter Weiss' Roman nimmt seinen Ausgang von der Betrachtung und kehrt nach gut 900 Seiten wieder zurück zur Erinnerung des sogenannten Pergamon-Frieses im Berliner "Pergamon-Museum". Am Anfang des Romans erkennt der Ich-Erzähler angesichts des antiken Reliefs, dass noch in den von den Siegern der Geschichte zu ihrer Verherrlichung in Auftrag gegebenen Kunstwerken die Spuren der Besiegten aufbewahrt und zu lesen sind. Besonders fasziniert den Erzähler und seine Freunde Herakles, der Heros, der sich mit den Göttern verbündete, um den Aufstand der Giganten niederzuschlagen. Ausgerechnet sein Platz ist heute leer: Nur noch eine Pranke seines Löwenfells überdauerte die Zeit. Am Ende des Romans, mit der bitteren Erfahrung der vernichtenden Niederlage des sozialistischen Widerstands im Kampf gegen den Faschismus, weiß der Erzähler, dass niemand kommen würde, die Stelle des Herakles, der den Kampf schon einmal entschied, einzunehmen, auch keiner, der diesmal auf Seiten der Schwachen stünde: "sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten".

Rainer Wölzl, heute in Wien und Berlin lebend, hat sich dem Pergamon-Altar ebenso wie der "Ästhetik des Widerstands" ausgesetzt. "Das Verstummen, die Lähmung derer, deren Los es war, in die Erde gestampft zu werden" sei "weiterhin spürbar", zitiert Wölzl Weiss und versucht zugleich, mit einer "Malerei des Verschwindens" dieses Verstummen in doppeltem Sinn aufzuheben: Einmal zu bewahren gegen die kreischende Ästhetik der bunten Warenwelt, zum zweiten aber den Verstummten eine Art Stimme zu verleihen.

Eine "Malerei des Verschwindens" ist der 135 Meter lange Fries der schwarzen Blätter (190 mit schwarzer Leinöl-Terpentin-Farbe bemalte Papiere 105 x 79 cm, verteilt auf 21 Bildblöcke, die sich am Maß der pergamesischen Reliefplatten orientieren) insofern, als die strenge Monochromie (sie enthalten nur verschiedene Schwarztöne) die Kontur und Plastizität des Abgebildeten fast zum Verschwinden bringt. "Radikale Kunst heute", schrieb Adorno, "heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz".

Abgebildet sind ,aufgelesene' Momentaufnahmen menschlichen Elends. Aufgelesen in den Medien heutiger Kommunikation, im Fernsehen, in der Zeitung, im Internet. Projiziert auf die Erinnerung an den ebenfalls grauenhaften Kampf zwischen Giganten und Göttern, den der Pergamon-Fries erzählt. Wölzl kopierte einzelne Sequenzen des antiken Frieses, dazwischen stehen Visionen jüngerer Orte oder Opfer des Grauens: die Leiste mit den Todeshaken in Plötzensee, die Guillotine ebenda, der Schatten eines Menschen auf der Straße von Hiroshima, die schiefen Stufen von Mauthausen, die durch Napalm verwüsteten Felder Vietnams, die Flüchtlingsboote von Somalia, die leeren Näpfe hungernder Frauen und Kinder irgendwo, die Flüchtlingstrecks im Kosovo, die Kampfhubschrauber, Raketenschweife und Flakscheinwerfer des Golfkriegs, die Verstümmelten des antiziganistischen Anschlags von Oberwart, das brennende Asylbewerberheim von Rostock, Augen und Stirn des Abschiebe-Opfers Marcus Omofuma, dazwischen eine virtuelle Nahaufnahme industriell manipulierter, durch "copyright" geschützter Zellen.

Gerahmt wird der Todes- und Leidensfries durch zwei nicht-schwarze Gemälde: zum einen eine scheinbare Naturidylle am großen Wannsee in Berlin (der neoklassizistisch verfremdete Blick aus dem Fenster des Gebäudes, wo 1942 die Endlösung der Judenfrage beschlossen wurde); zum anderen das mit roter Ölfarbe auf roter Leinwand modellierte Löwenfell des Herakles, eine Variation auf ein Selbstporträt des Künstlers von 1986 (das wiederum Michelangelos römisches Selbstporträt in der Bartholomäus-Haut zitiert), alle Individualität fast bis zur Ununterscheidbarkeit vom Hinter- und Untergrund zurücknehmend.

"Ich bin, wo mein Auge ist", schreibt Wölzl im Vorwort zum Katalog, doch was dies Auge sieht, kann ihm das Sehen vergehen lassen; seine Eindrücke in Malerei bannen, ist ein Akt der Notwehr. Dass diese Notwehr in der Auseinandersetzung mit gegebenem Material geschieht, dass sie "uneigene Gedanken" nachzieht, ist eine Folge des vergangenheitsbezogenen Blicks: "Alles was ich sehe, mir auffällt, mir zustößt", so Wölzl in seinem "Traktat über die Malerei des Verschwindens", "ist bereits vergangen, so auch die Zukunft, die auf mich zukommt. Vergangenheit - Vergehen - Verschwinden. Was bleibt, ist die Erinnerung, das Auftauchen, die Erscheinung, das Auslöschen der Zeit".

Mit diesen Gedanken variiert Wölzl Überlegungen eines Protagonisten in Weiss' Roman, nämlich des kurz vor der Hinrichtung stehenden Heilmann: "Für uns ist alles jetzt Vergangenheit", schreibt dieser an Unbekannt. "Indem wir offen sind für die Vergangnen, würdigen wir auch die, die nach uns kommen". Medium der Erinnerung ist in dieser Situation der Traum, den Weiss selbst als Strukturelement seines Romans stärker zu beachten empfahl als gemeinhin üblich. Im Traum sei man ganz bei sich, doch auch in einer Art Anästhesie befangen, die einen die unerträglichsten Schmerzen noch finden, erfinden und ertragen lässt. Wölzls Fries ist ein Versuch, die "Konkretion des Aufbewahrten", die Erinnerung an die in den Boden Gestampften, "tief in ihrem Elend und in ihrer Niederlage" Verlorenen, gleichsam traumartig sichtbar zu machen. Freilich ist es ein Alptraum, und dem Fries fehlt ein Element, das den Roman von Weiss auszeichnet: Nämlich der Versuch, den Traum mit der Teilnahme und dem Verantwortungsbewusstsein des Wachenden zu verbinden: "Das Leben aber, in welche Kerker auch immer geworfen, ist kein Traum."

Anders als Weiss' Roman ist Wölzls am Pergamonaltar geschulter Leidensfries die Äußerung eines, der den menschlichen Katastrophen ohnmächtig ausgeliefert ist. Die Hoffnung, dass der Widerstand der Besiegten zwar vorderhand vergeblich, aber nicht umsonst war; die Gewissheit, dass so wie "das Vergangene unabänderlich war", auch "die Hoffnungen unabänderlich bleiben" würden, "diese bebende, zähe, kühne Hoffnung", diese Gewissheit fehlt Wölzl, oder vielmehr ist sie fast bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft.

Wie bei vielen Kunst-Projekten der Moderne, auch der Postmoderne oder zweiten Moderne, oder wie immer unsere Gegenwart einmal klassifiziert werden wird, ist die dahinter stehende Idee, der theoretische Ansatz, interessanter als es die Werke selbst sind. Materialiter beeindrucken die einzelnen Teile des Zyklus - jedenfalls den Rezensenten - weniger als die Konzeption des Ganzen. Insofern ist es vielleicht auch kein allzu großer Verlust, dass die Abbildungen der einzelnen Blätter und anderer Elemente des "Pergamon"-Zyklus von Rainer Wölzl (dazu gehört noch eine Video-Installation, eine Bronzeplastik, eine Radierung und ein Textzitat aus der "Ästhetik des Widestands") in dem Katalog aufgrund beschränkter drucktechnischer Mittel kaum den Eindruck der Originale vermitteln können. Wer immer die Möglichkeit hat, sehe sich den Fries im Original an. Das Beeindruckendste, die am Rande der Wahrnehmbarkeit durch den Gilbton des Terpentins sich erahnen lassende Plastizität der monochrom schwarzen Darstellung kann man nur am Original wahrnehmen, sie ist aus den Abbildungen des Katalogs verschwunden.

Titelbild

Rainer Wölzl: Pergamon. Zu Peter Weiss. Die Ästhetik des Widerstands. Mit einem Text von Ernst Strouhal.
Picus Verlag, Wien 2001.
48 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3854521286

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