Demokratisierung des Wissens

Die Brockhaus-Enzyklopädie erscheint als Studienausgabe

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schwarzer Ledereinband mit rotem Buckramleinen, von Hand aufgebrachtes Lederrückenschild, Kopfgoldschnitt - in diesem edlen Gewand thront die 24-bändige Brockhaus-Enzyklopädie im Bücherregal im Arbeitszimmer des deutschen Bundeskanzlers, und in dieser Ausstattung schmückt sie auch die Wohnstuben seiner betuchteren Untertanen. Bei Brockhaus durchläuft jeder Buchblock noch handwerkliche Stationen, die so gar nicht in das Zeitalter moderner Massenproduktion zu passen scheinen. Aber die Verwendung ausgesuchter Materialien, die traditionelle Verarbeitung und der hohe Arbeitsaufwand machen die 24 Bände nicht nur zu den wohl auffälligsten anderthalb Metern im Bücherregal, sondern zugleich auch zu den wahrscheinlich teuersten. Schon deshalb war die Enzyklopädie bisher nicht allein lexikalischer Gebrauchsgegenstand oder Demonstrationsobjekt einschüchternder Belesenheit, sie war immer auch Sammlerstück, Prestigeobjekt und Zeichen einer vornehmen intellektuellen Distinguiertheit. Das ändert jedoch nicht das geringste daran, dass die Zahl derer, die fünftausend Mark für ein Lexikon anlegen können - und wollen - naturgemäß gering ist.

Schon dieser Umstand wird den Brockhaus-Verlag bewogen haben, jetzt eine erschwinglichere Studienausgabe der Enzyklopädie anzubieten. Mit der veränderten Preispolitik (auch der Preis der neuen fünfbändigen Ausgabe wurde merklich verringert) wird zugleich ein weiterer Nachteil aufgewogen. Die Tatsache nämlich, dass ihre Exklusivität die Enzyklopädie ihrem großen Vorbild weitgehend entrückte, der von Diderot und d'Alembert um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich herausgegebenen "Encyclopédie". Das französische Gemeinschaftswerk, an dem namhafte Philosophen wie Rousseau, Voltaire oder Montesquieu mitwirkten, war maßgeblich an der Entstehung der öffentlichen Meinung beteiligt; es beförderte die Verschmelzung von Bürgertum und Adel zu einer Gemeinschaft der Gebildeten und vermittelte einem breiten Publikum politische ebenso wie wissenschaftliche Sachverhalte. Wissen besaß eine genuin soziale Funktion, da es als Hebel einer geistigen Umwälzung verstanden wurde. Vor allem aus diesem Grund ist das Erscheinen der Brockhaus-Studienausgabe zu begrüßen: Nicht nur, weil das Lexikon damit deutlich billiger zu haben ist und der Wissensdurstige das so Gesparte auf den Kauf vieler anderer Bücher verwenden könnte, sondern weil die Enzyklopädie auf diese Weise einer größeren Zahl von Lesern zugänglich ist.

Die kartonierte Ausgabe des umfassendsten deutschsprachigen Nachschlagewerks kommt in sechs Schmuckschubern mit jeweils vier sorgfältig verarbeiteten Bänden im klassischen Lexikonformat. Inhaltlich unterscheidet sie sich in nichts von ihrem leinengebunden Doppelgänger. Für den beeindruckenden Umfang dieses ebenfalls ,großen' Brockhaus sprechen schon die nüchternen Zahlen: Die Enzyklopädie umfaßt rund 260.000 Stichwörter, die durch mehr als 120.000 Querverweise miteinander verknüpft sind, zusätzlich 35.000 Abbildungen, Karten und Tabellen auf etwa 17.500 Seiten. Die aktuelle 20. Auflage berücksichtigt Entwicklungen, die sich auf zeitgeschichtlichem und naturwissenschaftlich-technischem sowie auf ökologischem und wirtschaftlichem Gebiet vollzogen haben. Insbesondere die Großartikel zu Begriffen wie "Allergie", "ethnische Konflikte", "EU", "Fundamentalismus", "Klonen", "Massenmedien", "Ozonloch", "Telekommunikation" und "Völkermord" greifen viel diskutierte Themen unserer Zeit auf und spiegeln die Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends wider. Wichtige Einträge wie "Emanzipation", "Entwicklungspolitik" oder "Gewalt" sind gesondert als Schlüsselbegriffe gekennzeichnet.

Trotz der großen Erschließungsbreite des Brockhaus wäre es naiv anzunehmen, in Enzyklopädien fände sich ausschließlich unzweifelhaftes, so und nicht anders darstellbares Sach- und Faktenwissen. Auf welche unterschiedlichen Weisen enzyklopädisches Wissen organisiert sein kann (systematisch, alphabetisch, in der "Encyclopédie" auch genealogisch), welche verschiedenartigen Funktionen es erfüllen kann (wissenschaftliche Propädeutik, Emanzipationsinstrument, Lebenshilfe, Vehikel politisch-weltanschaulicher Wissensvermittlung) und welchen expliziten oder subkutanen Auswahlkriterien die Autorengemeinschaft folgt, darüber lässt sich manches im einschlägigen Artikel "Enzyklopädie" nachlesen. Natürlich ist auch dieses Lexikon in einer spezifischen Weise sozial, kulturell, historisch und zuletzt auch unternehmensgeschichtlich fokussiert. So wird die Bedeutung des älteren, von F.A. Brockhaus herausgegebenen Konversationslexikons in "Meyers Neuem Lexikon" sicherlich anders bewertet - und wieder anders in der "Encyklopaedia Britannica". Keine Frage: im "Svensk uppslagsbok" würde die in der deutschen Enzyklopädie verzeichnete "IKB" (Deutsche Industriebank AG) wohl keines Blickes gewürdigt, dafür fände der Benutzer aber einen ausführlichen Beitrag zum multinationalen Unternehmen "IKEA" (fehlt im Brockhaus gänzlich). Solche Brechungskoeffizienten muss der Leser einkalkulieren.

Vergleichbares gilt für den zeitlichen Vektor. Böse Zungen behaupten, dass vor dem Erscheinen des letzten Bandes dieses Mammutwerks der erste bereits veraltet sei. Während Christos Reichstags-Umhüllung von 1995 ohne größere Eile in Band vier Einzug gehalten hat und dort sogar mit einem Bild vertreten ist (ist dieses per se interessanter anzusehen als der verpackte Pont Neuf oder die in Japan aufgestellten "Umbrellas"?), endet in Band 9 der Artikel zu "Grass" mit Auskünften zu dem Roman "Ein weites Feld" (erschienen 1995). Danach ist, enzyklopädisch gesehen, Schluss. "Mein Jahrhundert" (1999), ein nicht minder beachtetes Buch, hat Grass definitiv zu spät herausgebracht, um es noch im Lexikon gewürdigt zu finden. Das hier etwas grobschlächtig vorexerzierte Verfahren zur zeitlichen Eingrenzung ließe sich mit Blick auf die weiterführenden Literaturangaben - an sich eine lobenswerte Einrichtung - mühelos noch sorgfältiger kalibrieren. Generell stellt sich hier das Problem, dass die Erscheinungsjahre der angegebenen Literatur der 19. Auflage bisweilen zeitlich näher stehen als denen der 20. So ist zu dem Stichwort "Biogenetisches Grundgesetz" ein Titel aus dem Jahr 1956 angegeben, der, obwohl er das Thema sehr umfassend behandelt, als veraltet gelten muss. Zwischenzeitlich sind zu dem von Ernst Haeckel formulierten Gesetz eine ganze Reihe - zumeist englischsprachige Publikationen - erschienen, darunter auch solche, die belegen, dass Haeckel die als Grundlage seiner Gesetzeshypothese dienende Embryonentafel bewusst gefälscht hat. Der Brockhaus-Artikel hingegen spricht nur davon, dass "die Parallele von Embryonalentwicklung und Stammesgeschichte nicht absolut gültig ist" und bezieht sich damit auf seinerzeit schon bekannte Einschränkungen. Andererseits: Ein Lexikon ist kein Fachbuch und will es auch nicht sein.

Trotzdem tut der Leser gut daran, zunächst einmal unter den Stichworten nachzuschlagen, bei denen er sich gut auszukennen glaubt, kann er doch nur so einschätzen lernen, was die Enzyklopädie zu leisten vermag und was nicht. Zum Beispiel unter dem Begriff "Ironie". Der etwas zu knapp gehaltene Artikel enthält die wichtige Unterscheidung zwischen sokratischer, romantischer und tragischer Ironie. Im Literaturverzeichnis fehlt Ernst Behlers Standardwerk "Ironie und literarische Moderne" von 1997 (dafür ist ein Buch desselben Autors aus dem Jahr 1972 aufgenommen). Leider ist aber nicht entscheidbar, ob hier der Titel möglicherweise einige Monate zu spät erschienen ist, um in Band 10 noch Beachtung zu finden oder den Redakteuren einfach nicht bekannt war. Dazu müsste man sich nämlich in der CIP-Kurztitelaufnahme der Studienausgabe informieren können, in welchem Jahr genau der entsprechende Band der gebundenen Enzyklopädie erschienen ist. Anstatt auf einen entsprechenden Hinweis stößt man jedoch auf eine inzwischen bei zahlreichen Verlagen verbreitete Unsitte: Der CIP-Kurztitel - seine Beantragung nimmt laut Deutscher Bibliothek nur einige wenige Tage in Anspruch - ist gar nicht mehr abgedruckt, sondern wird durch den Hinweis ersetzt, dass der Titeldatensatz bei eben jener Deutschen Bibliothek erhältlich sei. Man entrichtet also eine immer noch ansehnliche Summe für ein Lexikon, um sich gleich anschließend auf die Suche nach dem Erstveröffentlichungsjahr dieses oder jenes Bandes in die Bibliothek bemühen oder ins Internet einwählen zu müssen? Sehr wohl zu entscheiden ist über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein relevanter Literatur zum Thema Ironie für ein anderes Buch, Richard Rortys wichtige Arbeit "Kontingenz, Ironie und Solidarität", denn dieser Titel - wir schlagen nach bei "Rorty" - wurde bereits 1989 publiziert. Verzeichnet wurde es jedoch nicht. So ergeht es dem Leser bei der Suche nach Literatur oft - für meinen Geschmack zu oft.

Ebenfalls nicht umfangreich, aber bis auf weiteres sehr vollständig erscheint der Eintrag zu "Voltaire". Bis auf weiteres: Der Text konstruiert einen etwas missverständlichen Vergleich mit Voltaires "Essay über den Geist und die Sitten der Nationen", der, so heißt es, ökonomische, politische, soziale und kulturelle Erscheinungen als Zusammenhang betrachte. Montesquieus "Vom Geist der Gesetze" untersucht die gesellschaftlichen und juridischen Institutionen aber vor allem als direkte Hervorbringungen der äußeren Natur und des Klimas. Barbarei und politisches Unrecht werden so in einen naturhaften Determinismus verlagert - eine Erklärungsstereotype, die Voltaire in seinem "Kommentar über Montesquieus Werk von den Gesetzen" erbittert zurückweist. Hier wiegen die Unterschiede schwerer als die Gemeinsamkeiten. Wir wollen es damit aber abermals nicht zu genau nehmen. Deutlich werden sollte vor allem eines: Man muss bereits etwas wissen, um weiter dazu lernen zu können.

In der Tat beruht auch die enzyklopädische Welterschließung immer auf der aus einem unbegrenzten Datenmaterial zu treffenden, möglichst repräsentativen und umsichtigen Auswahl - auf jenem Verfahren also, das die Systemtheorie als "Komplexitätsreduktion" bezeichnet. Dies erkennt, wer sich einmal fragt, weshalb das Lexikon durch seine verschiedenen Auflagen hindurch immer genau 24 Bände umfasst, obwohl doch stets neue Informationen hinzukommen. Der Kunst des Hinzufügens muss also komplementär eine Kunst des Weglassens entsprechen, soll die Zahl der Bände konstant bleiben. Gestrichen wurden im Übergang von der 19. Auflage zur 20. beispielsweise zwei komplette Seiten zum Stichwort "Aachen", auf denen Straßen- und Platzregister sowie ein Stadtplan zu sehen waren. Das wäre noch zu verschmerzen, würden diese Angaben nicht auch in der 17. Auflage von 1973 fehlen. Weshalb also muss sie in der 19. Auflage wieder erscheinen? Angesichts dessen drängt sich der Verdacht auf, dass das Lexikon neben wichtigen und unverzichtbaren auch eine ganze Reihe kontingenter Informationen enthält, die allein deshalb aufgenommen wurden, damit sie in den folgenden Auflagen dem neu Hinzugekommenen weichen können. Dabei ist nicht nur an die zahlreichen Illustrationen oder die Tabellen mit heraldischen Zeichen zu denken, sondern auch an Stichworte wie "Ablaß" und - man merke auf - "Abhanden gekommene Sachen". Dabei handelt es sich "um körperl. Gegenstände, deren Besitz der unmittelbare Besitzer (z. B. der Entleiher) unfreiwillig, etwa durch Diebstahl oder Unachtsamkeit, verloren hat". Die Erklärung wie auch das Stichwort selbst ist zweifelsohne überflüssig.

Überhaupt, die Abweichungen zwischen der 19. und der 20. Auflage. Während das Erscheinen der 19. Auflage eine Sensation gewesen sei, behaupten Kritiker, so seien die Stichworte für die Neuauflage nur ungenügend aktualisiert worden. Ein beredtes Beispiel dafür sind in Band 9 die Seiten 470 bis 484, an denen so gut wie gar nichts geändert wurde. Zum Problem wird die Aktualisierung indes, wenn sich ,harte' Daten ohne weiteren Nachweis ändern. Warum wuchs beispielsweise der Ras Daschan zwischen der 19. und 20. Auflage gleich um 70 Meter, so dass er nicht länger der fünf-, sondern der vierthöchste Berg Afrikas ist? Wurde zwischenzeitlich neu vermessen oder hatte sich die alte Auflage einfach geirrt? Warum stirbt der italienische Medailleur "Abondio" in der 20. Auflage 19 Tage früher, warum hat sich die Grundfläche des Tschadsees so drastisch vermindert? Diesen Unregelmäßigkeiten stehen allerdings zahlreiche wichtige und richtige Aktualisierungen gegenüber, etwa die zur "Abgastabelle" und zum "Airbag". Fündig wird man auch unter entschieden ,modernen' Stichworten wie "virtuelle Realität" oder "Internet", obleich diese Artikel durch ihren geringen Umfang erstaunen machen: beiden wird jeweils nicht mehr als eine Spalte im Brockhaus zugedacht. Was das Lexikon zur "E-Mail" zu vermelden hat? Hier wird man umständlich zum kaum mehr zeitgemäßen, da der Bedeutung dieses Kommunikationsmittels nicht mehr entsprechenden Artikel "elektronische Post" umgeleitet. Auch dieser ist wenig informativ, denn er schweigt sich weitgehend über die Geschichte und Verbreitung dieser Technik aus.

Auch innerhalb anderer Artikel selbst deutet sich eine Zurückhaltung gegenüber modernen Entwicklungen an, nur dass diese, anders als die Einträge zu den Neuen Medien, argumentativ substantiiert sind. So wagt beispielsweise der Eintrag zur "Globalisierung" die Prognose, dass die Kulturen sich einer umstandslosen Vereinheitlichung durch "Defensivstrategien" entziehen werden. Das muss dem Brockhaus jedoch keineswegs zum Nachteil ausgelegt werden: Auch ein Lexikon hat das Recht und sogar die Pflicht, aktuelle Entwicklungen zu bewerten - falls erforderlich, auch kritisch. Ein diesbezüglicher Glanzpunkt stellt sicher der sehr kenntnisreich geschriebene und mit guten Literaturangaben versehene Artikel "Fortschritt" dar, insbesondere der Abschnitt zur "Ambivalenz des Fortschritts". Hier wird nach einer kritischen Würdigung eines technisch-ökonomisch halbierten Progressivismus eine Rückbesinnung des Menschen auf sein Selbstverständnis, auf seine Zielvorstellungen (u. a. sinnerfüllte Arbeit, Umweltverträglichkeit, Kreativität) sowie die Maßnahmen gefordert, durch die er jene Lebensqualitäten erlangen kann, u. a. durch den Abbau von Herrschaftsstrukturen, durch die Bereitschaft zur herrschaftsfreien Diskussion oder die Wünschbarkeit bestimmter Normen und Ziele. Aber es kommt noch schöner: "Zu einer dazu auch notwendigen Änderung der Mentalität können heute sowohl die Geisteswissenschaften wie auch Bürgerinitiativen, alternative politische Parteien und Lebensgemeinschaften einen bedeutungsvollen Beitrag leisten." Nur die Tatsache, dass zwar "Selbstverwirklichung" in der 20. Auflage noch ein Schlüsselbegriff, dafür aber "Glück" keiner mehr ist, trübt die Freude über diese Einsichten ein wenig.

Den immanenten enzyklopädischen Beschränkungen entspricht auf der anderen Seite, ich deutete es bereitsan, die überflüssige Information. So hat eine Rezensentin nachzuweisen versucht, dass die Enzyklopädie nicht nur erkennbare Präferenzen für die Hervorbringungen der bildenden Kunst, Architektur und Technik erkennen lässt, sondern ebenso für ein ungleich handfesteres Interessengebiet: den Automobilsport. Dem "Motopark Oschersleben" wird ein zwölfzeiliger Text mit einer farbigen Rennstreckenskizze gewidmet. Unter dem Begriff "Rennformel" finden sich neben umfangreichen Auskünften zu den technischen Vorgaben und Informationen über das Regelwerk für Grand-Prix-Rennen für die einzelnen Kategorien von Rennfahrzeugen eine Übersichtstabelle und ein Bild eines roten Ferrari. Das muss aber nicht weiter in Besorgnis versetzen, denn der Rennsport gewinnt immer weiter an (wenn auch fragwürdiger) Popularität, und schließlich sind ja auch die Maße des harmloseren "Tischtennis"-Spieltisches exakt angegeben. Auch der Artikel zu Schumachers Michael fällt bei allen Vorbehalten dieser Art des Freizeitvergnügens gegenüber nicht zu lang aus und wird vom Beitrag zu dem Grafiker und Maler Emil Schumacher, der überdies mit einem schönen Kunstdruck vertreten ist, gleich um einige Zeilen überrundet. Das Streckenprofil des "Sachsenrings" wäre allerdings für die 21. Auflage gekonnt auszubremsen. Man sieht schon: Um in der Frage des Redundanten auch nur in Bezug auf einen Wissensbereich fundiert entscheiden zu können, müsste man diesen durch fleißiges Lesen zunächst einmal vollständig erschließen, um ihn sodann gegen alle anderen (ebenso sorgfältig erschlossenen) abwägen zu können. Nur allzu schnell schleichen sich dabei persönliche Vorlieben oder Ideosynkrasien ein, die eine objektivere Bestandsaufnahme verwässern. Leicht mag ein anderer Leser für substanziell halten, was man selbst als vernachlässigbar erachtet. Auf jeden Fall weiterhelfen würde hier ein von Brockhaus der Enzyklopädie beigegebener Kriterienkatalog, der den Entscheidungen der Redaktion die nötige Transparenz verliehe.

Was oben zur Aktualität enzyklopädischer Information gesagt wurde, relativiert sich etwas, vergegenwärtigt man sich die tatsächlichen Aufgaben einer Enzyklopädie. Auch ein Lexikon dieses Formats kann zwangsläufig nur einen - möglichst repräsentativen - Ausschnitt aus Fach- und Alltagswissen treffen. Aus dem Blickwinkel einer panoramatischen ,Gesamtschau mit Auslassungen' verändert sich die Welt im Laufe der Jahre tatsächlich nur wenig, und man kann nonchalant darüber hinwegsehen, dass die "Aktion Sorgenkind" inzwischen in die "Aktion Mensch" umbenannt wurde. Solche Entwicklungen sind ohnehin auch durch andere Medien zugänglich. So gesehen vermitteln gerade große Enzyklopädien auch eine bestimmte geschichtsphilosophische Sicht des Weltgeschehens: Gerade die Mannigfaltigkeit, die räumliche, zeitliche und kulturelle Diversität des Mitgeteilten bei gleichzeitiger Unmöglichkeit seiner Aktualität evozieren den Eindruck eines mehr oder weniger fest umrissenen und in gewisser Hinsicht erhabenen Wissenskanons, in den aufgenommen zu werden es weitaus mehr bedarf als auf den Seiten bunter Boulevardmagazine von sich reden zu machen. Es mag etwas altmodisch klingen, aber diese Sicht der Dinge erzeugt nicht zuletzt auch eine gewisse Gelassenheit als Kontrapunkt zu unserer mitunter gehetzten Aktualitätssucht. Darin scheint jedenfalls die Hauptaufgabe jeder Enzyklopädie zu bestehen: eine Synthese zu leisten zwischen dem fortwährenden Wandel und dem, was ,bleibt'. Ein hochaktuelles Lexikon wird sich binnen kurzer Zeit überholt haben.

So könnte ganz am Schluss ein neuer Blick auf die Offenheit und Weltläufigkeit der Enzyklopädie entstehen, die allein "China", seine Geschichte und seine Errungenschaften auf vierzig (!) Seiten vorstellt, das ferne "Ägypten" mit ausführlichen neunzehn Seiten bedenkt und der Regierung und Landesnatur von "Indonesien", seiner Kunst, Literatur, Musik und seinen Tänzen immerhin noch zehn Seiten angedeihen lässt. Das ist bei weitem mehr als das, was man zur ersten Information über dieses Land benötigt. Immer wieder stößt der Leser zudem auf positive Überraschungen, wie den sehr ausführlichen Artikel zur "Fotografie". Und an dem Beitrag zu "Haar" und "Haartracht" hätte jeder kulturgeschichtlich Interessierte sicherlich seine helle Freude. Ich greife willkürlich heraus: Der in wesentlichen Punkten noch immer aktuelle Eintrag zum "Schwangerschaftsabbruch" enthält einen guten Überblick über die geschichtliche Entwicklung, erörtert unterschiedliche Indikationen und nennt die gesetzlichen Regelungen in ausgewählten europäischen Ländern, wobei, wie man zugeben muss, auch die nichteuropäischen von einigem Interesse wären. Überhaupt besitzt die 20. Auflage des Brockhaus zahlreiche Qualitäten. Bis auf wenige Artikel sind die Texte aussagekräftig und zuverlässig; sie sind von Fachleuten gut und verständlich geschrieben und tragen ohne Zweifel zur Bereicherung des Wissens bei. Leicht könnte man die Erörterung der instruktiven und sachhaltigen Stichworte fortsetzten - wäre sie nicht so unabschließbar wie das enzyklopädische Wissen selbst und eben deshalb sinnvoll zu begrenzen. Der Anschein einer allseitigen Vollständigkeit täuscht also, ohne dass schon dies allein Anlass zur Beanstandung sein könnte. Wie alle anderen Bücher auch, so bedarf auch die Enzyklopädie eines Lesers, der angesichts der vermeintlich unantastbaren Autorität der 24 gestandenen Bände nicht in eine passive und unbewegliche Rezeptionshaltung verfällt, sondern sich neugierig und mit der Bereitschaft zur kritischen Transzendierung der lexikalischen Gelehrsamkeit mit den dargebotenen Informationen auseinandersetzt.

Hilfreich ist hier schon der oben angedeutete Fragenkatalog. Was wurde in die Enzyklopädie aufgenommen, was und aus womöglich welchen Gründen wurde übergangen? Welchen Gegenständen widmet sich das Lexikon ausführlicher, welchen weniger ausführlich, welche Schwerpunkte setzt es? Wo liegen die Grenzen seiner Aktualität, wo filtert eine kulturell oder gesellschaftliche in bestimmter Weise eingefärbte Optik möglicherweise einen Teil der Informationen heraus, wo bewertet sie ihn über oder unter? Welchen Leserkreis will sich die Enzyklopädie erschließen und wie kommt dies zum Ausdruck? Erst auf diese Weise kontextualisiert sich die isolierte Information und wird in Bezug auf ihren Stellenwert einschätzbar. Über die Leistungsfähigkeit der Enzyklopädie entscheidet mit anderen Worten immer auch der Nutzer. Unter diesen wohl nicht unzumutbaren Bedingungen ist der Brockhaus auf jeden Fall die Anschafftung wert.

Titelbild

Brockhaus. Die Enzyklopädie - Studienausgabe.
Brockhaus Verlag, Leipzig/Mannheim 2001.
17500 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3765324108

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