C. G. Jungs Frauen-Staat

Wolfgang Martynkewicz über die 'psychoanalytische Fallgeschichte' der Sabina Spielrein

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Buch über "das berühmteste Dreiecksverhältnis der Psychoanalyse" ausgerechnet in einer Reihe mit dem Titel "Paare" erscheint, mag befremden, hat aber dennoch seine Berechtigung. Wolfgang Martynkewicz hat es unter dem Titel "Sabina Spielrein und C. G. Jung. Eine Fallgeschichte" vorgelegt. Bei dem Dritten im - alles andere als Schillerschen - Bunde handelt es sich um Sigmund Freud.

1904 kam die 19-jährige Sabina Spielrein als Patientin zu dem etwa zehn Jahre älteren C. G. Jung in die psychiatrische Klinik Burghölzli bei Zürich. Jung diagnostizierte eine "psychotische Hysterie", womit er den "Zeitgeschmack" getroffen hatte, wie Martynkewicz mit sanfter Ironie bemerkt. Dennoch, so der Autor, habe Jung "gute Gründe" für seine Diagnose gehabt. Dass diese nun aber gerade darin zu suchen sein sollen, dass es sich bei Spielrein um eine "assimilierte russische Jüdin" gehandelt hat, ist nicht nachzuvollziehen. Auch will die Feststellung des Autors, damals virulente Vorstellungen über "die russische Frau", denen auch Jung anhing und die seine Wahrnehmung von Sabina Spielrein überlagerten, seien ein "Gespinst von Vorurteilen und Mythen" gewesen, nicht zu seiner positiven Bewertung von Jungs diagnostischen Gründen passen.

Wie es auch immer um die Gründe bestellt gewesen sein mag, augenscheinlich war Jungs Behandlung erfolgreich - und Spielreins Symptome verschwanden nach wenigen Wochen. Ob sie allerdings tatsächlich so stark erkrankt war, wie Jung - und später auch andere wie Bruno Bettelheim - es darstellten, wird inzwischen in Zweifel gezogen. Bald entwickelte sich die angehende Medizinstudentin jedenfalls von der Patientin zur Theoretikerin und Psychotherapeutin, die selbst wertvolle Beiträge zur Entwicklung der Psychoanalyse leistete. Sie wurde also zur Kollegin und - wie Jung es empfand - zur Konkurrentin.

Zunächst jedoch machte er die Patientin Spielrein sowohl zum Objekt seiner Forschungen als auch zum Vehikel seiner Karriere. Sie wurde von ihm zum "therapeutischen Objekt, zum Fallbeispiel" degradiert, an dem er seine bzw. Freuds Theoreme "erprobt[e]". Gleichzeitig machte er sie zu seiner Assistentin, und bald verliebte sich Sabina Spielrein in den Therapeuten. Der verheiratete Analytiker kam seinerseits, wie Martynkewicz voller Verständnis schreibt, "ohne Frauen nicht aus, er braucht[e] nicht nur eine, sondern mehrere, braucht[e] die verständnisvolle Gefährtin, die inspirierende Geliebte, die ergebene Mitarbeiterin". Jede der Frauen, fährt der Autor in chauvinistischem Schulterschluss mit Jung fort, erhielt "ihre Aufgabe". Doch habe das nicht verhindern können, "daß es im Frauen-Staat" Jungs zu "Eifersüchteleien und Rangkämpfen" kam. Manchmal habe Jung "sich nur retten" können, "indem er zu einer großen Reise" aufbrach. Der arme Mann! Jung sei, fährt Martynkewicz mitfühlend fort , "immer mehr unter Druck" geraten und habe "offensichtlich in Nöten" gesteckt. Ähnliche Empathie gegenüber Spielrein vermag der Autor allerdings nicht aufzubringen. Selbst als Jung auf schäbige, ja schändliche Weise die Liebschaft mit Spielrein beendete, nachdem seine Frau einen anonymen Brief an Spiereins Mutter verfasst hatte, lässt der Subtext von Martynkewicz' Buch ein gewisses Verständnis erkennen. Trotz einiger fragmentarischer Zitate aus einschlägigen Briefen Jungs an Spielreins Eltern und an Freud verschleiert Martynkewicz' Darstellung eher, wie verlogen und für Spielrein diffamierend Jung ihnen gegenüber die Angelegenheit darstellte, als dass sie es deutlich macht.

Freud und Jung waren sich darüber einig, dass Spielrein zum Schweigen über die "Affäre" verpflichtet werden müsse. Das gelang, und Freud bemerkte so zufrieden wie zynisch, dass "der Abschluß [...] doch ein für alle Parteien befriedigender" sei. Das konnte wohl für ihn und vor allem Jung gelten, wohl kaum aber für Spielrein.

Beiden, Freud und Jung, die nun ihrerseits unter Ausschluss von Spielrein ein Paar bildeten, war es ausschließlich um die je eigene Karriere zu tun und nicht um die ehemalige Patientin und Geliebte - und schon gar nicht um die Kollegin. Das wird auch daran deutlich, wie sie sich später mal 'wohlwollend' herablassend, mal verächtlich denunziatorisch über Spielreins theoretische Schriften verständigen. "Sie hat wenig gelesen und verflacht [...] weil sie nicht gründlich ist", schrieb Jung an Freud, und überhaupt sei Spielreins Arbeit "enorm komplexbedingt".

Spielrein ging 1911, dem Jahr ihrer Promotion über den "psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie", für neun Monate nach Wien, hatte sogleich persönlichen Kontakt mit Freud und wurde im Alter von 25 Jahren Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung, auf deren Sitzungen sie sich nicht nur lebhaft an der Diskussion beteiligte, sondern selbst Vorträge hielt. Auch in dieser Zeit blieb sie Objekt im Briefwechsel Freuds und Jungs, deren Korrespondenz durch eine - wohl unbewusste - Abwehrhaltung gegen das Eingeständnis geprägt ist, es bei Spielrein nicht nur mit einer ernsthaften, sondern sogar hervorragenden Theoretikerin zu tun zu haben. Mit Vorliebe wird sie von beiden als "die kleine Spielrein" abqualifiziert - eine offenbar nicht für voll zu nehmende Person. Jung ist ebenso wie auch Freud über die Jahre hinweg sehr daran gelegen, die wissenschaftliche Konkurrentin nach außen hin tatsächlich klein zu halten und nicht deutlich werden zu lassen, wie viel beide ihr verdanken. In ihren Publikationen lassen Jung und Freud Spielrein bis zuletzt - nach dem sie sich selbst schon längst entzweit hatten - weitgehend ungenannt und beschränken sich auf wenigen Erwähnungen in Fußnoten, wo sich, wie im Falle Jungs, anstelle eines Dankes für Anregungen und Hinweise nur die Bemerkung findet, dass Spielrein unabhängig von ihm zu den gleichen Ergebnissen gekommen ist.

Das Unternehmen der beiden Psychoanalytiker, die Konkurrentin in hinterer Reihe zu halten, ist so sehr von Erfolg gekrönt, dass Spielreins Bedeutung für die psychoanalytische Theorie lange Jahrzehnte nahezu gänzlich unbekannt geblieben war. Ernest Jones, der um ihre Relevanz für die Entwicklung der Psychoanalyse wissen musste, erwähnt sie in seiner Freud-Hagiographie von 1953 ebenso wenig, wie Nancy Chodorow, der Spielrein offenbar unbekannt geblieben war, in ihrer Arbeit über den "Beitrag der Frauen in der psychoanalytischen Bewegung und Theorie" (1987). Erst in jüngster Zeit findet Sabina Spielrein die ihr gebührende Anerkennung als eine der - wie Inge Stephan 1992 formulierte - "Mütter der Psychoanalyse".

Zwar lässt Martynkewicz sein Unbehagen an der Herabwürdigung der Theoretikerin zur "kleinen Spielrein" erkennen, doch scheint er nicht zu bemerken, dass er selbst wiederholt eine Sprache benutzt, die Sabina Spielrein gegenüber Jung und Freud herabsetzt. So etwa, wenn er kritik- und distanzlos Jungs Wendung "ein Mann und ein Mädchen" übernimmt, mit der dieser über sich und Spielrein spricht, oder wenn er formuliert: "Jung will ein klärendes Gespräch mit Sabina" - eben: der Mann und das Mädchen.

Überhaupt scheint der Erfolg der Freud-/Jungschen Verschweigungsstrategie gelegentlich bis zu Martynkewicz durchzuschlagen. Zwar betont er, dass Spielrein in ihrer wohl wichtigsten Schrift "Die Destruktion als Ursache des Werdens" (1912) Freuds Todestrieb vorwegnahm - was heute mit Ausnahme von John Kerr, der dies vehement bestreitet, allgemein anerkannt ist - und erwähnt Spielreins 1907 entwickelte "Theorie der Transformation", mit der sie in Konkurrenz zu Freuds Sublimationstheorem trat. Dennoch zeichnet auch er Spielrein insgesamt eher als Patientin denn als bedeutende Wissenschaftlerin und Psychoanalytikerin.

Titelbild

Wolfgang Martynkewicz: Sabina Spielrein und Carl Gustav Jung. Eine Fallgeschichte.
Rowohlt Verlag, Berlin 1999.
176 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3871342874

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