Krieg als Geistesstörung

Eine neue und erweiterte Ausgabe der psychohistorischen Schriften von Lloyd deMause

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?" Etwas von der Qualität, wie sie sich Kafka wünschte, hatte jene 1973 erschienene Studie des Historikers Lloyd deMause, die in Deutschland unter dem Titel "Hört ihr die Kinder weinen" bekannt wurde. Sie begann mit den Sätzen: "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir seit kurzem erst zu erwachen beginnen. Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto niedriger ist das Niveau der Kindspflege und desto wahrscheinlicher ist es, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, terrorisiert und sexuell mißbraucht werden."

Die Studie steht am Anfang einer Reihe von Aufsätzen, mit denen der in New York lebende Wissenschaftler keinen geringeren Anspruch erhob als eine "neue Sozialwissenschaft" zu begründen: die "Psychohistorie". Er definierte sie kurz und bündig als "Lehre von den geschichtichen Motivationen" und erklärte: "Geschichte ist nicht, wie öffentliche Ereignisse das Privatleben betreffen, sondern vielmehr, wie private Fantasien auf der öffentlichen Bühne ausagiert werden." Geschichte, wie sie deMause analysiert, "handelt weniger von den Aktivitäten erwachsener Männer, sondern vielmehr davon, wie Geschichte zuerst in Familien von Frauen und Kindern und auch Männern bestimmt und erst später in öffentlichen Aktivitäten Erwachsener reflektiert wird." Der Slogan des von deMause begründeten "Institute for Psychohistory" und des "Journal of Psychohistory" (siehe auch http://www.psychohistory.com) lautet: "keine Kindheit, keine Psychohistorie". Psychoanalytikern hat er gelehrt, historisch zu denken, und Historikern, psychoanalytisch nach kollektiven, bewussten und vor allem auch unbewussten Motiven historischen Handelns zu fragen.

Den Spuren der Gewalt in der Geschichte gilt sein besonderes Interesse. In Kriegen sieht er "weniger fatale 'Irrtümer' als vielmehr Wünsche" am Werk, Wünsche, die unter historischen Bedingungen familiärer Milieus und mehr oder weniger gewalttätiger Erziehungsstile geprägt wurden. Die verdienstvolle Neuausgabe der 1982 erstmals gesammelt unter dem Titel "Foundations of Psychohistory" in New York erschienen und in Deutschland später auf verschiedene Buchpublikationen verteilten Texte ist durch drei neuere Aufsätze ergänzt worden. Einer davon heißt "Der Golfkieg als Geistesstörung" und analysiert die emotionalen Vorraussetzungen, unter denen dieser Krieg geführt wurde: das Geflecht von Ängsten, Wünschen und kollektiven Wahnvorstellungen, das dem Krieg vorausging und ihn begleitete. Im Blick auf das destruktive Potential religiöser Wahnsysteme, das der terroristischen Kriegserklärung an die USA am 11. September zugrunde lag, und auf viele kaum weniger wahnhafte Muster der Reaktion darauf, hat der Aufsatz gegenwärtig eine so erschreckende wie erhellende Aktualität.

Titelbild

Lloyd deMause: Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung.
Herausgegeben von Artur R. Boelderl und Ludwig Janus.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Artur R. Boelderl.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2000.
487 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3932133641

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch