Würfelwurf aus einem Keller

Stéphane Mallarmé in altem und neuem Gewand bei der edition per procura

Von Marion GeesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Gees

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich betrachte er die heutige Zeit als eine regierungslose, als kaiserlose Zeit für den Dichter, in die er sich nicht einzumischen habe. "Sie ist zu sehr in Verfall und in vorbereitendem Aufbruch, als das er anderes tun könnte als Arbeiten im Geheimen auf später hin oder auf niemals und von Zeit zu Zeit den Menschen seine Visitenkarte senden, Stanzen oder ein Sonett, um nicht von ihnen gesteinigt zu werden, falls sie ihn im Verdacht hätten, zu wissen, daß sie nicht stattfinden."

Hier spricht nicht ein Gegenwartsautor, der seinen Rückzug aus dem öffentlichen literarischen Leben anzukündigen scheint, sondern der französische Dichter Stéphane Mallarmé, der diese - was dichterische Bemühungen angeht - nur auf den ersten Blick aussichtslos und pessimistisch wirkenden Zeilen in einem am 16. November 1885 verfassten Brief an den Dichterfreund Paul Verlaine sendet. Der eigentliche Anlass des Briefes ist die Erwähnung eines Fragments, dessen Entstehen über 20 Jahre hin erträumt wurde, langsam heranreifte und neben seinen Prosastücken und Versen der Jugendzeit wohl als sein wichtigstes Werk betrachtet werden kann. Die Rede ist von einem Buch, das sich nicht aus einer Sammlung von Zufallsfunden zusammensetzt, sondern "aufgebaut und überdacht" und sich als literarisches Spiel entfaltet, mit einem Rhythmus, der "entpersönlicht und lebend bis in die Gestaltung seiner Seiten" wirkt.

Paul Valéry vergleicht die Arbeitsweise Mallarmés einmal mit der eines Malers, der ein Bild beginnt, indem er einige Pinselstriche frei auf die Leinwand wirft und sich dann bemüht, zwischen den ersten Elementen Verbindungen zu finden, die schließlich im Geschriebenen Sätze oder Gedichte bilden. Das Zusammenwirken von Zufall und Kalkül, Klarheit und Rätselhaftigkeit führt in dem abstrakten Figuren-Gedicht "Un Coup de dés" ("Ein Würfelwurf"), das als erster Wurf dieser geplanten größeren Dichtung zu verstehen ist, eine Textlandschaft herbei, deren Gestaltung und Anordnung, die Streuung der Buchstaben über das Weiße des Blattes, Mallarmé selbst mit dem Muster einer dunklen, unregelmäßig geknüpften Spitze vergleicht, "die das Unendliche festhält". Wortkomplexe werden über zwei Buchseiten verteilt, über den Bund hinweg, sie gewinnen dadurch bildlichen Charakter, inhaltliche Bruchstücke werden auch optisch zueinander in Beziehung gesetzt. Zugleich beeinflusst die Musik diese Anordnungen auf leeren weißen Flächen. Mallarmé selbst dazu: "Schnell, gemäß der Beweglichkeit der Schrift, streicht das Dichterische um das stockende, bruchstückhafte Abrollen des schon im Titel eingeführten Grund-Satzes und verstreut sich ebenso rasch. Alles verläuft abgekürzt, hypothetisch; Erzählung wird vermieden. Zu ergänzen: Aus dieser Darbietung des Gedanklichen im Rohzustand mit allem Zurücknehmen, Hinausziehen, fugenartigen Entweichen ergibt sich für einen, der laut lesen mag, eine Partitur." Es ist wiederum Paul Valéry, der sich als einer der Ersten beeindruckt zeigt von den mehrere Sinne gleichzeitig ansprechenden Sprachgebilden dieses "so einfachen, so sanften, so natürlich vornehmen und von Zauber umwobenen" Menschen: "Es war Summen, Flüstern, Donner für die Augen, ein ganz geistiger Orkan von Blatt zu Blatt geführt bis zu einem Punkt unaussprechlichen Bruches."

Diese geräuschvollen dissonanten Textgebilde sind einerseits als Verneinung herkömmlicher Schreibweisen, als pessimistische Einsicht in die Zersplitterung einer Welt, die die Errichtung größerer künstlerischer Sinngebäude zweifelhaft erscheinen lässt, und gleichzeitig als zukunftsweisende Konstruktionen zu lesen. Als einzige Aufgabe des Dichters - so heißt es an anderer Stelle dezidiert im Brief an Verlaine - sieht er die "orphische Entfaltung", die Auffächerung der Welt und das literarische Spiel an sich. Dichten heißt für ihn, in "ausdrücklich gewolltem Dunkel das verschwiegene Ding beschwören mittels anspielender nie direkter Worte."

In der edition per procura liegt nun, herausgegeben von Alma Vallazza, eine wunderbare nachtblaue Buchschachtel vor, mit zwei eindrucksvollen Bänden von und für Mallarmé: "Ein Würfelwurf", auf Büttenpapier und im Sinne des Dichters in entsprechenden Drucktypen-Varianten gesetzt, genau übertragen, detailliert und materialreich in einem Anhang (ergänzt mit einem Glossar und ausgewählten Briefstellen) von Marie-Louise Erlenmeyer erläutert. Ein zweiter, ähnlich ansprechend gestalteter Band namens "Eventail. Für Stéphane Mallarmé", mit einer Zeichnung von Peter Z. Herzog, präsentiert Dichtungen, Essays und Übersetzungen, Beiträge aus dem Wirkungskreis von Mallarmé bis ins 20. Jahrhundert, Fragmente, die sich in die Tradition der "Ästhetik" Mallarmés einschreiben. Darunter auch Übertragungen und Dichtungen von und zu Francis Ponge von Michael Donhauser, eine Auswahl "Gedichte von Samuel Wood" von Louis-René des Foràt, übersetzt und kommentiert von Manfred Bauschulte, Auszüge aus der Prosasammlung "Übersetzt aus dem Schweigen" von Joe Bousquet in der Übertragung von Peter Natter, sowie Neuübersetzungen früher Gedichte Mallarmés von Thomas Schestag.

Besonders hervorzuheben ist außerdem, dass hier - erstmals in deutscher Sprache - Teile der 258 gefundenen Blätter des unvollendeten "Livre"-Konvoluts in der Übersetzung von Werner Dürrson, ausgewählt und bearbeitet von der Herausgeberin Alma Vallazza, in graphisch vielfältigen Kompositionen präsentiert und in einem vertiefenden Essay kommentiert werden. Diese nun vorliegende, sehr erfreuliche Ausgabe, die Einblicke in das komplette Sprach-Gewebe des Fragments ermöglicht, wird den Vorstellungen Mallarmés mehr als gerecht, denn bis in die feinste Gestaltung hinein berücksichtigen die Herausgeberin sowie die beteiligten Autoren das Prozesshafte und Fragmentarische sowie die Idee des Auffächerns und des Fortschreitens in der Mallarmé'schen Ästhetik, ohne sie durch tendenziöse Kategorien zu vereinnahmen.

Würfelwurf /Wortwurf: die Verbindung mit dem "Wort" schwingt verschwiegen bereits im "coup de dés" mit. Die besondere Gestaltung der Buchseite mit verschiedenen Drucktypen, die weiße Räume entstehen lässt, eröffnet Zwischenräume, die der Leser entweder selbst imaginär zu füllen vermag oder die ihm eine nicht zu versprachlichende Leere vorführen. Die Bruchstellen zwischen Wörtern und Zeilen, kühne Kombinationen von Wortkomplexen sowie die Möglichkeit des Hin- und Zurücklesens bestimmen das Neue dieser Schreibweise, die wohl wie kaum eine andere auf Sprachbewegungen und Gestaltungsweisen der Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts einwirkte, die sich von traditionellen Vorstellungen vermeintlicher Repräsentanz und Ganzheitlichkeit des Kunstwerks zu lösen versuchten. Nicht zuletzt spiegelt sich der Einfluss Mallarmés in der zeitgenössischen Musik. So lässt etwa der Komponist Pierre Boulez, der einige seiner Kompositionen direkt auf das Werk Mallarmés bezieht, auch in seinen ästhetischen Überlegungen einen deutlichen Einfluss dieser dichterischen Stilmittel erkennen und zieht damit wiederum konsequent zukunftsweisende Linien in der Musik, indem er den Akkord als Produkt einer Übereinanderlagerung oder Zerlegung von Strukturen versteht und eine Folge in nur einer einzigen Richtung für ausgeschlossen hält.

Das Buch verstand Mallarmé als vollkommene Expansion der "Letter", aus der direkt eine Beweglichkeit zu beziehen sei. In einem Brief an André Gide schreibt er kurz vor seinem Tode: "Die Dichtung ist im Druck, jetzt, so wie ich sie entworfen habe in der Seitengestaltung, worin der ganze Effekt liegt. Ein gewisses Wort, in großen Buchstaben, verlangt das Weiß einer ganzen Seite, und ich glaube, der Wirkung sicher zu sein." Aber "dé" lässt noch weitere Bedeutungen mitschwingen; ein Würfelwurf wurde früher auch als Gottesurteil aufgefasst und spielte darauf an, dass Gott den Zufall lenke und der Mensch durch sein Geworfensein bestimmt sei. Der Würfelwurf als ein gelenkter Zufall, der auf Gott verweist und ihn zugleich leugnet.

Dass der "Coup de dés" ein über einen langen Zeitraum sich langsam herausbildendes Projekt war, wird in verschiedenen Gedichten aus der Jugendzeit deutlich, die die Bildwelten des Würfelwurfs wie etwa das Meer, den Schiffbruch, die Sterne, die Feder und die Beschwörung des weißen Blattes bereits ankündigen. Das noch zu seinen Lebzeiten herausgegebene und in sich relativ geschlossene Gedicht, das zugleich Auftakt und Teil des vom Autor anvisierten "LIVRE", des absoluten Buchs ist, begreift er selbst, fern aller Bekenntnislyrik, als einen Versuch, als ein Tasten, allerdings mit dem utopischen Hintergedanken, ein universelles "opus magnum" anzusteuern, in dem ein Ganzes sich vergegenwärtigt, in den alles münden sollte. Der Traum vom totalen Buch, das dennoch fragmentarisch vorgeht und die Streuung zum Prinzip macht. Das häufig erwähnte Scheitern Mallarmés wird somit relativiert, auch wenn er die 258 Zettel des unvollendeten "LIVRE"-Konvoluts nach seinem Tode verbrannt wissen wollte.

Der vorliegende "Würfelwurf" ist keine neue Produktion, obwohl er sich mit dem beigefügten Zusatzband doch in neuem und zugleich altem Gewand zeigt. Der von Marie-Louise Erlenmeyer übersetzte "Würfelwurf" war bereits 1966 (in einer von Helmut Heißenbüttel und Otto F. Walter herausgegebenen Reihe im Walter Verlag) in kleiner Auflage erschienen. Da das Buch damals kaum Käufer fand, erwarb die Übersetzerin die Restauflage und lagerte sie im Keller ihres Hauses in Basel ein. Die Ausgrabung ihrer vorbildlichen Übersetzung kann nur in ihrem Sinne gewesen sein. Es war der Pforzheimer Unternehmer Rainer Bartels, der das Haus nach dem Tode der Übersetzerin kaufte, die verpackten Exemplare des "Würfelwurfs" fand, die er schließlich der edition per procura mit dem Wunsch, diese Auflage erneut herauszugeben, überließ. Ein Zufallswurf? Der Verlag führte bereits einen Titel zu Mallarmé in seinem Programm und organisierte 1998, aus Anlass des 100. Todestages des französischen Lyrikers, eine Gedenkveranstaltung. Genau in dieser Phase wurde ihm das Buch zugespielt und fand so einen neuen verlockenden Wirkungskreis, in dem sich der Text neu zu entfalten vermag, nicht zuletzt durch die ergänzten Fragmente und neuen Lektüren, die den Blick direkt oder indirekt auf das spannungsvolle und enigmatische Werk Mallarmés richten, ohne es in seinen offenen Schwingungen und Rätseln zu bändigen.

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Stéphane Mallarmé: Ein Würfelwurf. Eventail. Für Stéphane Mallarmé.
Herausgegeben von Alma Vallazza.
Übersetzt und erläutert von Marie-Louise Erlenmeyer.
edition per procura, Wien / Lana 2000.
250 Seiten, 61,36 EUR.
ISBN-10: 390111842X

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