Hörspiel des Monats Juni 1999

"Sounds of Dancing" von Kaye Mortley

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Begründung der Jury:

Atmen, battieren, zählen, schreiten. Un - deux - trois. Das Klavier gibt den Takt vor, die Tänzerinnen sprechen mit, heben die Arme zum

Bühnentanz, üben die Bewegungsabläufe der Choreographie, völlig konzentriert, offenbar eins mit der Aufgabe und der Musik, bis die

Melodie wechselt oder der Pianist im rasenden Selbstlauf davonzieht.

Junge Mädchen, Freizeit- und Profitänzer, Choreographen und Musiker hat Kaye Mortley für ihr Hörspiel bei der Probe beobachtet,

vielmehr belauscht: im Theater, im Tanzstudio oder in der Ballettschule, beim Einstudieren eines der populärsten Stücke der

Ballettgeschichte - Tschaikowskys "Dornröschen".

Was wir hören sind immer nur Fragmente, kurze Ausschnitte, die unvermittelt abbrechen können wie die Schrittfolgen der Tänzer. Quasi

zwischen die Anordnungen des Ballettmeisters hat die in Paris lebende australische Künstlerin das Kinderlied vom Dornröschen montiert.

Ihr Hörstück führt uns zu Momenten, in denen aus der scheinbar chaotischen Geräuschkulisse plötzlich erhabene Schönheit entsteht, ein

Melodienbogen nur für den Augenblick: Der Erwartungshorizont aller Pflicht und aller Kür, die perfekte Inszenierung, die am Ende aller

Proben stehen soll. Es ist die Disziplin der künstlerischen Probe, die anregende und erregende Anspannung der Beteiligten, ihre Hingabe

an Bewegung, Musik und Tanz, selbst dort noch, wo sie aus der Dressur auszubrechen scheinen und das Wechselspiel von höchster

Konzentration und momentanem Laisser-aller hörbar machen.

Das Hörspiel von Kaye Mortley, mit Originaltönen aus Choreographien von Rudolf Nurejew, John Neumeier und Mats Ek, ist ein

gelungenes Beispiel für ein modernes Klangkunstwerk. Mortleys Inszenierung gilt nicht dem Endprodukt, dem Premierenabend, sondern

den Vorstudien, den einzelnen Komponenten der Probenarbeit, der Geräuschkulisse, die wir gewohnt sind, auszublenden, um uns eine

makellose Akustik zu erschaffen. Das Geräusch aber, der ächzende und knarrende Studio- oder Bühnenboden, die Atemübungen der

Tänzer, die Takt- und Rhythmusvorgaben, die Fingerübungen des Pianisten, die im versonnenen Augenblick mühelos den Bogen spannen vom tausendfach abgeleierten Tschaikowsky-Motiv zur Bach-Invention - alle diese Elemente verdichten sich zu einer vertrauten Atmosphäre, die in der kühlen Akribie von Christoph Buggerts Dramaturgie gut zum Ausdruck kommt. Mit dezent integrierten Zitaten Leonardo da Vincis, etwa zur Anatomie des menschlichen Körpers und seinen Bewegungsabläufen, spricht das Stück über Phänomene wie Grazie, Eleganz und Ausdruckskraft. Daß man all dies nicht nur sehen, sondern auch hören kann, ist die Leistung dieses radiofonen Werkes, dessen besonderer Reiz darin besteht, die theoretischen Texteinwürfe anhand des akustischen Erlebnisses nachzuweisen. Bei allem Wechsel der Dynamik und trotz ständiger Bewegung vor den Mikrophonen lädt Kaye Mortleys Stück in erster Linie zur Kontemplation ein und entfaltet Ruhe und Gelassenheit, die Bilder nicht vermissen, sondern entstehen lassen. Die Tänzer bringen die Schönheit des menschlichen Körpers in der Bewegung zum Klingen.
Nächste Sitzung der Jury: Freitag, 30. Juli 1999, 10.30 Uhr