Vorsätzliche Tötung

Colum McCanns Erzählungsband "Wie alles in diesem Land"

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem 11. September 2001 sind die Augen der Medienwelt auf Afghanistan gerichtet, das Land am Hindukusch, seit über zwanzig Jahren Schauplatz von Krieg und Bürgerkrieg. Doch seit dem Anschlag auf das World Trade Center haben, vom Nahostkonflikt abgesehen, alle anderen staatlichen und innerstaatlichen Auseinandersetzungen an Bedeutung verloren, und zu leicht vergessen wir, dass sich nicht nur in fernen Ländern Bevölkerungsgruppen unversöhnt gegenüberstehen, sondern auch in Europa, beispielsweise die Protestanten und Katholiken in Nordirland. Davon erzählt der mittlerweile in New York lebende Ire Colum McCann in seinem neuen Buch "Wie alles in diesem Land", einer Sammlung von drei Stories.

Er stellt in diesen das Alltagsleben der Iren dar, in dem der Krieg nicht immer im Vordergrund steht, sich aber auf perfide Weise dort einnistet, es sich als Vorurteile in den Köpfen der Menschen bequem macht und so seine eigene Existenz auf lange Zeit sichert.

In "Hungerstreik" - diese Geschichte allein nimmt etwa zwei Drittel des Buches ein - erzählt McCann aus der Perspektive von Kevin, einem pubertierenden Jungen, der schon früh seinen Vater verloren hat und dessen Mutter als Folksängerin durch Pubs tingelt. Mutter und Sohn sind unmittelbar zuvor aus Nordirland in die Republik Irland gezogen - nach Galway, wo die Mutter früher immer den Sommer verbracht hatte. Im Leben des Jungen mischen sich Rebellentum gegen die Mutter mit dem Gefühl der Entwurzelung und der Suche nach einem Ersatz für den Vater. Diesen findet er in seinem 25-jährigen Onkel, der in einem nordirischen Gefängnis einsitzt und dort in Hungerstreik getreten ist.

Für die Entwicklung des Jungen ist diese Konstellation eine gefährliche Mischung. Kevin verbindet seine eigene, meist pubertäre Unzufriedenheit mit der politischen Situation, ohne diese allerdings zu begreifen. Er möchte wissen, warum sein Onkel im Gefängnis ist und möchte seine politischen Ziele verstehen: "Er las einen Leitartikel, in dem es hieß, der Hungerstreik sei wie die Bemühungen eines Erfrierenden, sich zu wärmen, indem er sich selbst in Brand stecke. Er versuchte, das zu verstehen, aber es gelang ihm nicht, und so verbrannte er die Zeitung an der hinteren Begrenzungsmauer des Handballfeldes und zerstampfte die Glut." Seine Vorurteile werden weiter gefestigt und gleichzeitig unbestimmter. Sie richten sich mehr und mehr gegen "die Anderen". Darunter fasst er beinahe seine ganze Umwelt zusammen, der er zu entfliehen versucht, oder gegen die er in seiner Fantasie mit Gewalt vorgeht. Ein Ausdruck aus der Zeitung geht ihm nicht mehr aus dem Kopf: "vorsätzliche Tötung. Er ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen und fand, dass sie wie der Titel eines Films klangen, den er mal im Fernsehen gesehen hatte. Der Junge ließ seinen Onkel für einen Augenblick auf einem Filmplakat erscheinen. Eine Explosion beleuchtete das Gesicht seines Onkels von der Seite".

Erst als Kevin einen alten Litauer trifft, der mit seiner Frau in einem Haus am Meer lebt und ihn zu Kanufahren mitnimmt, kommt der Junge etwas zur Ruhe. Doch das sich erhoffte glückliche Ende kommt nicht.

In den beiden anderen Geschichten dieses Buches - "Wie alles in diesem Land" und "Holz" - wird McCanns erzählerische Strategie deutlicher, weil komprimierter dargestellt. Er bietet dem Leser weder am Anfang noch am Ende abgeschlossene Handlungen. Grandios eröffnet McCann den Erzählungsband und die gleichnamige Story mit einer Art Actionsequenz, in der zunächst Vater und Tochter vergeblich versuchen, das Pferd vor dem Ertrinken zu retten: "Ein Sommerhochwasser kam, und unser Zugpferd blieb im Fluss stecken. Der Fluss donnerte gegen Felsen, das klang für mich wie sich drehende Schlüssel im Schloss." Gerade als sie es schon aufgeben wollen, tauchen die Dei ex machina auf - eine zufällig vorbeikommende Gruppe von Soldaten kann das Pferd aus dem Wasser ziehen. Doch der Pferdebesitzer ist mitnichten dankbar - eher hätte er sein Lieblingspferd ersaufen lassen, als dass er es von Soldaten gerettet sehen möchte. Er hat den Tod seiner Frau durch einen Armeelaster nicht überwunden. Wie die Soldaten nach der geglückten Rettung scherzend in seinem Wohnzimmer sitzen, von der Tochter so gut es geht mit Tee, Keksen und Verbänden versorgt und vom abweisenden Verhalten des Vater schließlich aus dem Haus getrieben werden, das zählt zum Besten im Buch. Das ist mit schnellen Strichen, aber überaus stilsicher, skizziert. Auf nur 16 Seiten hat der Autor Konflikte dargestellt, aus denen auch ein großer Roman entstehen könnte.

McCanns Deutung des Nordirlandkonflikts ist nicht politisch oder soziologisch, sondern psychologisch. Alle Figuren des Bandes "Wie alles in diesem Land" haben Verlusterfahrungen hinter sich - bei dem Vater in "Wie alles in diesem Land" und Kevin in "Hungerstreik" ist dieser Verlust ganz real. Andrew, aus dessen Perspektive McCann die Geschichte "Holz" erzählt, hat seinen Vater auf ganz andere Weise verloren. Er hatte einen Schlaganfall erlitten und ist seitdem gelähmt; er ist zwar noch am Leben, aber er kann als Pflegefall seine Rolle in der Familie nicht mehr erfüllen. Die resolute Mutter hat seine Position in der Familie übernommen, aber sie will ihm dies nicht zu offensichtlich zeigen. Vor allem soll der Vater nicht erfahren, dass sie auch das Geschäft, eine Schreinerwerkstatt, übernommen hat. Prozessionsstangen für die Oranjermärsche soll sie produzieren. Diesen Auftrag hätte der Vater nie angenommen, so dass die Arbeiten von Mutter und Sohn heimlich ausgeführt werden müssen. Das funktioniert bis zum Ende reibungslos, aber weil sich der Abtransport der Stangen verzögert, können beide das Geräusch des LKWs nicht verbergen. Der Vater möchte wissen, was im Hof vor sich geht - und genau hier bricht McCann seinen Text ab.

Ob alt oder jung, McCanns Figuren sind verbittert über diese Verluste. Wie sich daraus die Vorurteile entwickeln, die die Gewalt am Laufen halten, das ist mitreißend erzählt. Gleichzeitig weisen McCanns Storys über ihren eigenen historischen Hintergrund hinaus. Die Protagonisten in "Wie alles in diesem Land" leben nicht nur heute in Irland, sie haben zu früheren Zeiten überall gelebt - und es wird sie auch in Zukunft geben.

Titelbild

Colum McCann: Wie alles in diesem Land. Storys.
Übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Matthias Müller.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
156 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3498044753

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